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Schreie eines Schiffbrüchigen

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GEDANKEN HINTER GITTERN. Von Abram Terz (Sinjawski). Aus dem Russischen von Hendrik Berinson. Paul-Zsolnay-Verlaj, Wien-Hamburg, 1968. 10 Seiten, Leinen. S 77.-.

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GEDANKEN HINTER GITTERN. Von Abram Terz (Sinjawski). Aus dem Russischen von Hendrik Berinson. Paul-Zsolnay-Verlaj, Wien-Hamburg, 1968. 10 Seiten, Leinen. S 77.-.

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Wie schon in Sinjawskis Roman „Ljubimow“ und in seinen „Phantastischen Geschichten“ überrascht auch in dem neuen Band „Gedanken hinter Gittern“4 die starke metaphysische Komponente, die antithetisch geprüft ist. In seinem Weltbild prallen Hölle, Erde und Himmel feindlich aufeinander; und im Diesseits ist für ihn die Hölle realer als der Himmel. Er sieht die Erde als einen verlorenen, satanischen Ort, bedroht von den Mächten des Chaos. Hinter der von den Menschen errichteten Ordnung lauert der Abgrund; die Beziehung zur göttlichen Welt ist labil, wirkt sich nicht selbstverständlich als Halt und Kraftquelle für das irdische Leben aus. Sinjawski besteht darauf, von Unrat und Kehricht, von Verfall und Verwesung, von Zeugung und Tod zu sprechen. Wenn es auch einmal heißt, daß die uns umgebende Natur der Wald, die Berge, der Himmel die sichtbarste Form der Ewigkeit sei, die dunklen Mächte und Kräfte drängen die hellen immer wieder zurück.

„Die Möglichkeit ist nicht auszuschließen, daß auf der Erde — die Hölle ist. Dann ist alles verständlich. Aber wenn dem nicht so ist? Herrgott, wie ist es dann?“

Sinjawski ist ein christlicher Denker, aber er findet nicht die Brücke über die ihn bedrängenden Widersprüche und Gegensätze, obwohl er weiß, wo der Ansatzpunkt liegen müßte. In den hier vorliegenden Aphorismen spricht er einmal davon, daß die wahrhaft christlichen Gefühle der menschlichen Natur entgegengesetzt sind:

„Die Natur lehrt, .den Tod zu fürchten, Leiden zu vermeiden, vor Schmerz zu weinen. Und hier ist alles umgekehrt — widernatürlich (sagen die Humanisten), übernatürlich (sagen die Christen)… Aber man braucht nur dem Schuldiger zu vergeben, und es wird einem leicht auf der Seele… Wenn man diese Leichtigkeit und Fröhlichkeit der Seele nicht als Folge, sondern als Ursache auffaßt, so stellen sich Verzeihung und jede beliebige umgekehrte Reaktion auf ein zugefügtes Leid unaufhaltsam und ohne besondere Aufforderung ein. Nicht die Überwindung der Natur, sondern das Ersetzen derselben durch irgendeine andere, uns nicht bekannte Natur, die Schimerz zu ertragen, leiden, sterben lehrt und einen von der Verpflichtung befreit, sich zu fürchten und zu hassen.“

Bezeichnend für Sinjawski ist eine quälende Abwertung des Geschlechtlichen. (Christlichen Ursprungs?, fragt man sich.)

Alles in Sinjawskis Weltbild isi übersteigert, teilweise verzerrt. Ir seinen Gedanken über Gott und die Menschen, über das Leben und der Tod herrscht eine erschreckende Düsternis vor. Einmal vergleicht ei das Leben mit einer kurzen, verantwortungsvollen Dienstreise.- ,,Wii alle auf der .Erde sind weder Gäste noch Gastgeber, weder Touristen noch Einheimische. Wir alle befinden uns auf einer Dienstreise.“ Am meisten beschäftigt ihn das Ende der Reise, der Tod, „die Krönung des ganzen Werkes“, und er bittet das Schicksal um einen ehrenhaften, würdigen Tod.

Kontraste, Widersprüche, Resignation, Verzweiflung zeichnen sich in den Gedankensplittern ah. „Herrgott, schlag mich tot“, und dann wieder: „Der Herr zieht mich vor.“ Der Glaube an Gott wird nie in Zweifel gezogen: „Glauben muß man aus dem einfachen Grunde, weil Gott existiert.“ Und doch ergibt sich für Sinjawski aus diesem starken, selbstverständlichen Glauben keine konkrete Hilfe für das schwere Leben, geschweige denn die Möglichkeit, es zu bejahen oder gar zu lieben. Eine Polin, der ich Passagen aus den „Gedanken hinter Gittern" vorlas, meinte, man müsse diesen Aufruhr eines Schiffbrüchigen als Protest gegen seine, die kommunistische Umwelt, ansehen. Mir jedoch scheint, es steckt mehr dahinter: Der Autor leidet an der irdischen Welt schlechthin, sieht den Menschen verloren auf dieser Erde. Als Geschöpf Gottes gewiß, aber eines, das das Gefühl der Geborgenheit in der Hand des Vaters nicht mehr hat.

Am Schluß des Buches sinniert Sinjawski über die Kindheit, in der er die einzige unersetzliche Grundlage des Lebens sieht:

„Wenn man das alles vergleicht — den Schlaf, die Kindheit, den Tod —, so erweist sich, daß das Leben, das als .Entwicklung der bewußten Persönlichkeit“ gelebt wurde, leicht verschwindet und nichts wert ist. Was immer auch aus uns wird, was immer wir auch erlernen, es bleibt uns doch nur das,. was wir in der Kindheit hatten und was wir vor dem Einschlafen haben. Damit, nur damit, gehen wir wieder von dannen und vergessen für immer alle übrigen Erwerbungen — Kenntnisse, Geld, Ruhm, Mühen, Bücher, die unsere Persönlichkeit geprägt haben, die jedoch gar keinen Wert vor dem Antlitz des Kindes, des Schlafes und des Todes haben …“

Darin liegt eine tröstliche, positive Bescheidung, mehr als man im Laufe der Lektüre zu hoffen wagte. Sinjawski leidet an der Welt, an den Menschen und an sich selbst; aber er gibt nicht auf. Möge ihm diese Fähigkeit auch während seiner Haftzeit erhalten bleiben und ihn behüten.

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