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Stille Rechenschaft

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HÄLFTE DES LEBENS. Erinnerungen von Gertrud von Le Fort. Ehrenwlrt-Verlag München. 151 Seiten.

Gertrud von Le Port hat uns ein Erinnerungsbuch beschert, erlesen bebildert und eine Zeit und Menschen spiegelnd, an die sich mit der Dichterin zu erinnern, unseren so anders gearteten Zeitgenossen wahrlich den Gewinn erneuter eigener Vertiefung bedeuten mag. Der Bogen spannt sich von den früheren Kindertagen bis zum Ende des ersten Weltkriegs. Es handelt sich nicht eigentlich um Memoiren, sondern um eine „stille Rechenschaft” über das gelebte Leben, so wie es in Wirklichkeit war, um Erinnerungen, die die Dichterin für sich selbst und für Ihre Freunde aufschrieb (S. 6). Wir1 begegnen den wunderbaren, tief religiösen, die Dichterin entscheidend mitprägenden Gestalten der Eltern, den geliebten Stätten, wohin die wechselnden Garnisonen des Vaters den jeweiligen Wohnsitz der Familie verlegten und wo es zu kurzen Begegnungen mit Großen der Geschichte wie Bismarck und dem alten Kaiser Wilhelm kommt. Die ganze Atmosphäre der Zeit lang vor dem ersten Weltkrieg, dieser noch so geborgen und behütet anmutenden, ja lieblichen Zeit (mitsamt ihren für uns bisweilen etwas komischen Nuancen), wie sie sich einmalig im edelsten protestantischen Adel des damaligen Deutschlands verdichtete, wird in liebevollem Bemühen und mit großer poetischer Kirnst eingefangen. Schon in dieser Kindheit wurde grundgelegt, was die Gestalt Gertrud von Le Fort später auszeichnen wird: über die zarte Liebe zu Blumen und Tieren hinaus das unerschütterliche Vertrauen auf die Natur als das alle Katastrophen Überdauernde, einzig Beständige, das uns „heute noch gegen die Gewalt der Technik schützt” (S. 119); der erstaunliche Sinn für die Geschichte, an deren tragischer Deu- tungslosigkeit sie später so sehr leiden sollte (S. 92, 100), hierin sich verbindend der „tiefen Trauer des Historikers”, ihres späteren Lehrers Emst Tröltsch (S. 149); die unbestechliche moralisch-politische Verantwortung auf Grund eines „Weltgefühls, das alle Nationen noch im Zusammenbruch einigt (S. 126) und das sie zu einer der mutigsten und tröstlichsten Gestalten des Deutschlands des Dritten Reiches werden ließ; das Interesse für Theologie und das selbstverständliche, verantwortungsbewußte Wissen um die Einheit aller Christen. Schon in der Kindheit regt sich auch die dichterische Begabung, die allerdings erst verhältnismäßig spät zur Reife kommt.

Neben den vielen (oft humorvollsouverän geschilderten) intimeren Ereignissen innerhalb der engeren und weiteren Familie, in der uns immer wieder prachtvolle Typen begegnen, neben Schilderungen beglückender Reisen werden uns sehr interessante familiengeschichtliche Daten über die Le Forts mitgeteilt (die nicht Hugenotten waren und die noch heute in Genf Bürgerrecht besitzen, S. 32). Indessen liegt es sowohl in der Natur der Verfasserin als auch ihres Gegenstandes, daß die Schilderung nie im privat-intimen Bereich stecken, sondern stets im Zusammenhang bleibt mit dem mittragenden allgemeinen Zeitgeschehen, so daß das Buch mehr ist als ein bloßes Familiendokument.

Für den mit dem Geistesleben der Gegenwart Vertrauten dürften die Ausführungen über die Undversitäts- jahre, namentlich in Heidelberg, „der Etappe” im • Leben der Dichterin (S. 83), über die großen Lehrer Ernst Tröltsch und Hans von Schubert, mit denen sie eine lebenslängliche Freundschaft verband, den Höhepunkt der Lektüre bilden. Hier stehen auch die so manche Fehlinterpretation berichtigenden Worte: „… es bedurfte der ganzen theologischen und historischen Weitschau meiner Heidelberger Lehrer, um diesen Weg (der Konversion zur katholischen Kirche) zu ermöglichen, dem meine von Jugend auf der Einheit der Kirche zugewandte Innerlichkeit zustrebte… Es ging, um es sehr deutlich zu sagen, bei mir weniger um eine Konversion als Ablehnung des evangelischen Glaubens, sondern es ging um eine Vereinigung der getrennten Bekenntnisse. Es bedeutet für mich das Geschenk einer besonderen Gnade, daß ich jetzt im hohen Alter das Konzil noch erleben darf, wo… die Erkenntnis zu tagen beginnt, daß wir eins sind in der Liebe Christi und daß Unterscheidungen zeitbedingter Natur überwunden werden können und müssen” (S. 84).

Nach der Lektüre dieses unschätzbaren Dokuments eines in absoluter Lauterkeit gelebten Lebens eines großen Menschen voller Noblesse, Güte und Weisheit bleibt dem Leser mit der Dichterin nur der Wunsch übrig, daß es ihr (und ihm) vergönnt sei, noch mit der zweiten Hälfte dieses Lebens konfrontiert zu werden.

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