Ferra Mikura - © Foto: picturedesk.com / brandstaetter images / Votava

Vera Ferra-Mikura: Mögliche Wirklichkeit

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Vor 100 Jahren wurde Vera Ferra-Mikura in Wien geboren. Ihre brisante Kurzprosa wartet auf Wiederentdeckung.

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Vor 100 Jahren wurde Vera Ferra-Mikura in Wien geboren. Ihre brisante Kurzprosa wartet auf Wiederentdeckung.

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In Vera Ferra-Mikuras einzigen längeren Erzählung „Die Lektion“ (1959) werden zwei alte unverheiratete Frauen vorgeführt, die nach einem arbeitsreichen Leben als Inhaberin einer Papierhandlung und Angestellte im Telegrafenamt ihre kleinbürgerlich zwanghafte Ordnung von allen Seiten bedroht sehen; etwa von der zukünftigen Braut ihres einzigen Neffen Robert oder einer Rechtsordnung, in der zwischen Notwehr und Mord unterschieden wird, denn für sie gibt es „keinen schuldlosen Mörder“. Als Agnes und Klementine eines Abends nach Hause gehen, fühlen sie sich wieder einmal besonders unbehaglich und versteigen sich in die Illusion, dass sich in ihrer Wohnung ein Verbrecher aufhält. Aus Angst sperren sie den vermeintlichen Täter im Kleiderschrank ein. Doch die Lektion, die sie ihm erteilen wollen, verkehrt sich ins Gegenteil, als sie am nächsten Tag zwar kein Geräusch mehr, aber Leichengeruch wahrzunehmen glauben. Sie ziehen in ein Hotel und beschließen schließlich, den Schrank und ein Pianino mit einem Übersiedlungstransport zu einem nahegelegenen Stausee zu bringen und zu versenken. Klementine hofft noch: „‚Aber wir leben‘, sagte sie, ‚und er wird untergehen!‘“ Doch beim Anblick des schwimmenden Kastens wird sie verrückt und beginnt unentwegt zu lachen.

Wach-Sein fürs Erwachsen-Sein

Die Angst und Furcht vor einer möglichen Bedrohung wird in der grotesken Handlung desavouiert. „Vera Ferra-Mikura versteht es, das Unwahrscheinliche, Absurde, unmerklich zur möglichen Wirklichkeit zu lassen“, lobt Johann Gunert die Novelle in seiner Einleitung zum Band „Schuldlos wie die Mohnkapsel“ (1961). Die Autorin kritisiert in „Die Lektion“ die Doppelbödigkeit und Verlogenheit einer Moral, die in den 1950er Jahren Nationalsozialismus und Krieg verdrängt und Hoffnungen auf einen kritischen Neuanfang obsolet erscheinen lässt. Die Menschen identifizieren sich lieber mit der Schuldlosigkeit der Natur wie im titelgebenden Gedicht des Bandes: „Schuldlos wie die Mohnkapsel [...] so schuldlos möchten wir sein / an unserer Existenz.“

Was auffällt am literarischen Werdegang von Vera Ferra-Mikura, geboren am 14. Februar 1923 in Wien, ist der beinahe gleichzeitige Start mit Erwachsenen- und Kinderliteratur, die gleichermaßen die Verbindung von sozialkritischem Blick auf die Realität und fantastischer Übersteigerung auszeichnet. Die Autorin plädiert in ihrem Werk für eine genaue Wahrnehmung der Verhältnisse, für das Erwachen als Kennzeichen des Erwachsen-Seins.

Ihre Neigung zum Schreiben sah die Schriftstellerin in der literarischen Atmosphäre des Elternhauses begründet, die man bei den Besitzern einer Tierfutter- und Vogelhandlung kaum vermutet. Es gab im Haushalt Bücher, und der Vater schrieb neben Artikeln für Fachzeitschriften Gedichte, die er auf Verpackungen von Tierfutter drucken ließ. Vera besuchte nach der Volksund Hauptschule Abendkurse an der Handelsakademie, half im elterlichen Geschäft mit, das immer schlechtere Erträge abwarf, arbeitete als Laufmädchen in einem Wiener Warenhaus und während des Krieges als Stenotypistin bei einem Architekten. Nach einem landwirtschaftlichen Einsatz in der Wachau im Sommer 1945 trat sie im Festungsverlag eine Stelle als Sekretärin und Lektorin an, wo 1946 und 1947 ein Lyrikband und ihr erster und einziger Roman „Die Sackgasse“ erschienen, der 2022 im Wiener Milena Verlag neu aufgelegt wurde. Veras Bruder Raimund Gregor Ferra war als Maler und Grafiker Mitbegründer der Wiener Schule des phantastischen Realismus und entwarf einige Buchumschläge für seine Schwester.

Kein eigenes Zimmer

1948 heiratete Vera Ferra den Staatsoperntänzer Ludwig Mikura, im selben Jahr wurde ihre Tochter Elisabeth geboren, 1952 ihr Sohn Ludwig Wolfgang. Die Tochter erinnert sich: „Unsere Wohnung war nicht klein, aber es hatte keiner von uns ein eigenes Zimmer. Meine Mutter schrieb in der Küche neben dampfenden Kochtöpfen, die Werkstatt unseres handwerklich begabten Vaters war ein Durchgangskabinett. [...] Sie selbst ist schon sehr früh aufgestanden, um ungestört schreiben zu können.“ Die Wohnung war auch Treffpunkt für literarische Abende und gesellige Runden mit befreundeten Schriftstellerinnen und Schriftstellern, unter anderem Christine Busta, Jeannie Ebner, Friedrich Polakovics.

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