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Was ich von einem modernen Roman erwarte

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Das wurde idi kürzlich von einer Tageszeitung gefragt. Da eine konkrete Antwort von der Redaktion gewiß nicht erwartet wurde, antwortete ich nicht. Mi; war nämlich eingefallen, die Fragę wärt lidi zu nehmen und darüber nachzudenken, welche Wünsche an den modernen Roman ich anzumelden hätte:

1. Daß im Zentrum des Romans ‘ drei Figuren stehen, deren keine ein Konterfei des Autors darstellt oder Ansichten des Autors äußert- Den Autor lerne ich zur Genüge kennen, indem ich seinen Roman lese. Wenn ich ihn danach nicht ebensogut kenne wie jeden Menschen, mit dem ich eine Woche lang Tag für Tag einige Stunden umging — ohne daß er mir von sich, speziell seiner Kind? heit und Jugend, seinen persönlichen Schwierigkeiten in der Liebe, seinem tiefen Unbehagen an der Welt, seiner existentiellen Sicht auf die Zeitprobleme sprach —, muß ich es bedauern, Zeit an seinen Roman gewandt zu haben- Nachdem idi mit einem Menschen so intensiv umging, wie ich einen Roman lese, weiß ich einiges über diesen Bekannten, was er nicht weiß und mir also niemals gesagt haben könnte. Wenn der Autor sich in seinen Roman einschältet, mit mir, dem Leser, über eine Figur, eine Situation, ein Problem sprechen will, soll er das direkt, ohne Einkleidung tun.

2. Daß in weiteren Randfiguren aus anderen Milieus gewisse Züge der Hauptfiguren gespiegelt wiederkehren: in diesen Randfiguren sollte andererseits die Welt außerhalb des Romans zu diesem hereinscheinen. Ein Roman in der Retorte, ohne Aussicht auf die übrige Welt, ist keiner.

3. Daß die zentralen Figuren des Romans einer bestimmten Gesellschaft und einer bestimmten sozialen Schicht in dieser Gesellschaft angehören und Art sowie Zustand dieser ‘Gesellschaft an ihnen abgelesen werden können. Es ist gesagt worden, e6 gäbe keine Gesellschaft mehr und deshalb sei der Roman auch überholt: — auch eine Gesellschaft in Auflösung oder im Übergang zu einer anderen Form ist noch immer eine Gesellschaft (wir sind allerdings gewohnt, nur die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts unter diesem Begriff zu verstehen).

4. Daß das Vordergrundgeschehen des Romans, seine Handlung, entweder in Tageszyklen und dann längstens in drei Tagen oder in Jahreszyklen und dann längstens in sieben Jahren abläuft. Die. Einteilung des Romans in Kapitel, die ich ebenso als selbstverständlich ansehe wie die Einteilung einer Bailade oder einer Romanze in Strophen, sollte nicht identisch mit .den Tages- oder Jahreszyklen sein. Denn die Uhr- und Kalenderzeit selbst spielt im Roman keine Rolle.

5. Daß in der kurzen Zeit des Romanablaufs sowohl die Vergangenheit der zentralen Figuren sowie künftige Möglichkeiten von ihnen und beider Abhängigkeit voneinander gegenwärtig sind, ohne’ Verwendung der filmischen Mittel des Rückbiendens oder Einblendens und auch ohne die dilettantischen Mittel des Sicherinnerns und Sichhinausträumens. Träume sind allerdings im Roman nicht ausgeschlossen, nur sollten sie nicht in dem Romangewebe als solche eigens, sondern ebenso wie das Wach- und Tagesleben gewertet sein. Aufschlüsse neuer Psychologie und des modernen Bewußtseins, die beziehungsvolle Korrespondenz in der Wahmehmungserinne- rung verschiedener Sinne, die Data des Eingedenkens, die Begegnungen mit einem früheren Leben in festlichen Augenblicken und der innere Monolog sind bessere Darstellungsmittel.

6. Daß die Örtlichkeiten des Romans konkrete Deutlichkeit haben, sei es Traumdeutlichkeit oder die reale ihrer Topographie, hingegen in den Linien und in der Atmosphäre bei aller Deutlichkeit wechselnd bleibep. Zu den Figuren des Romans gehören ebenso die Gegenstände und Dinge, mit denen sie leben. Beides, Örtlichkeiten und Dinge, geht allein durch den wiederholten Umgang der Figuren des Romans mit ihm ins Gedächtnis.

7. Daß die Handlung des Romans durch ein ungewöhnliches Ereignis ausgelöst ist, für ihre Entwicklung vom Autor außerdem nur noch die Figuren des Romans und Situationen eingesetzt werden; keine Begründungen aus Kausalität, Logik und Psychologie. Die Welt des Romans hat kein Innen und birgt kein Triebwerk nach Art eines Uhrwerks, sondern die Romanwelt hat nur verschiedene Ebenen und nur Außen. Das Außen sollte allerdings in dem Ineinander von Gegenwärtigem und Vergangenem und der Gleichzeitigkeit von Lokalem und Fernem so dicht und so exotisch sein, daß es deutlich das Korrelat von etwas anderem darstellt, das an sich unbegreiflich ist. In seltenen Momenten des Romans mag man das Gesicht des Gottes ahnen, der in ihm herrscht.

8. Daß die Sprache des Romans die — nein, nicht die Umgangsspradie des Alltags ist, aber daß sie wie diese ist; mit Anklängen, Erinnerungen an Wendungen und Prägungen der Bibel, alter Epen und Volksgesänge, klassischer Dichter, von Dialekten — eine Sprache, trächtig an Erinnerungen vieler Aus- druefcsweisen; aber jm persönlichen Satzgefüge und -gefalle und im Tonfall des Autors, so daß ich beim stillen Lesen (ein Roman wird mit den Augen gelesen und weder vorgetragen noch vorgelesen) meinen kann, den Autor erzählen zu hören.

9. Daß der Rhythmus des Romans vom Rhythmus des modernen Lebens bestimmt ist, das Gedränge der Menge und der Massen und die Schocks bei der Berührung mit ihnen darin spürbar sind; und ln den Abläufen das Neben- und übereinander verschiedener Tempi darin: der Zeit des Adlers, schwebend über dem Hochgebirgsstock, der Zeit des Landmanns in seinen Feldern, der Zeit des Motors in Wagen und Flugzeug —: und alles durch den Vortrag des Autors gebunden in der schwebenden Ruhe einer einzigen Zeit, die keine Zeit kennt,

10. Daß der Roman bei allem Realismus der Darstellung Insgesamt ein Märchen ist.

Das sind, fällt mir auf, nur Erwartungen, die von jedem guten Roman der Vergangenheit erfüllt worden sind.

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