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Wegweiser durch den Filmdschungel

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Den Dioskuren Ulrich Gregor-Enno Patalas danken wir die erste kritische „Geschichte des Films“ in deutscher Sprache. Sie haben jetzt ihr imposantes Werk durch eine „Geschichte des modernen Films“ (Sigbert-Mohn-Verlag, Gütersloh, 344 Seiten, 12.80 DM) gekrönt. Die hier schon gewürdigten Tugenden und Untugenden des ersten Bandes gelten auch für den neuen. Am Rand sei unter anderem vermerkt, daß die Autoren die Bedeutung des Films „Der dritte Mann“ unter- und die Persönlichkeit Pre-ston Sturges' offensichtlich überschätzt haben. Das unverbindliche Schlußkapitel enttäuscht. Und Anto-nioni müsse man „zwischen den Zeilen lesen“? Da dürfte mancher Kritiker seine Kurzsichtigkeit entdecken ... Daß der österreichische Film in dieser gewichtigen Filmgeschichte nicht existiert, hat er sich größtenteils selbst zuzuschreiben.

C. W. Ceram, Verfasser des Romans der Archäologie „Götter, Gräber und Gelehrte“, hat mit seinem neuesten Werk, „Eine Archäo logie des Films“ (Rowohlt-Verlag, 264 Seiten, 293 Abbildungen), die überquellende Literatur zur Urgeschichte des Films mit einem in Text und Bild originellen, die Grenzen zur Wissenschaft streifenden Opus bereichert. Er rückt die Einschätzung unzähliger „Vorläufer“ zurecht, entwirft Porträts von beklemmender Abenteuerlichkeit und Tragik und entdeckt unter anderem das „erste Pressephoto“ (Crystal-Palast) und das „erste Kriegsphoto“ (im Krimkrieg).

Scharf äugen West und Ost auf den deutschen Film. Erstaunliches Dokumentationsmaterial ist Joseph Wulfs „Theater und Film im Dritten Reich“ (Sigbert-Mohn-Verlag, Gütersloh, 440 Seiten) zur Verfügung gestanden. Die Entlarvung der Kunstpolitik des „Dritten Reiches“ (letzteres bekanntlich ein Terminus aus Ibsens „Kaiser und Galiläer“) ist vollkommen. — Aus allen Rohren feuert die „Zone“ in Hans Oleys und Joachim Hellwigs „... wie einst

Lili Marleen“ (Verlag der Nation, Berlin, 346 Seiten, reich bebildert) häufig berechtigt, manchmal zu Unrecht auf den ganzen (west-)deut-schen politischen und Kriegsfilm, von 1914 bis, bis... ? Auch der amerikanische Film kriegt sein Teil ab. Eine Frage am Rande: Würden die Rohre auch feuern, wenn man sie um 180 Grad drehte?

Auch eine sehr gescheite, konkrete und von Beispielen strotzende „Dramaturgie des Films“ von Semion Freilich (Henschel-Verlag, Berlin, 197 Seiten) kommt aus dem Osten. Nur: daß der „Panzerkreuzer Potemkin“ kein „Film der Masse“, sondern der „Individualitäten“ sei. nehmen wir nicht ab. Übrigens ist auch ersteres keine Schande.

Üppig schießt nach wie vor die filmbiographische Literatur ins Kraut, doch ist ein Zug zu „Fruchtansatz“ unverkennbar.

„Jean Cocteau, gesehen von richord de grab“ (Delpsche Verlagsbuchhandlung, München, 40 Bilder mit Texten) ist das Werk eines Kunstphotographen mit dem sechsten Sinn für das Besondere, für Cocteaus schönstes Vermächtnis, das Waldtheater in Cap d'Ail, und für den Menschen Cocteau, „der nur aus Kopf und Händen besteht“. — Robert Paynes „Der große Charlie“ (Wilhelm-Heine-Verlag, München, 176 Seiten, 32 Photos) ist die bestgeschriebene in der Flut der Chaplin-Biographien, ja noch mehr: eine kleine Kulturgeschichte des Clowns. — „Der Sohn des Samurai I Das Leben des Sessue Hayakawa“ (Henry-Goverts-Verlag, Stuttgart, 210 Seiten) ist die Autobiographie des „Oberst Saito“ von der „Brücke am Kwai“; stellenweise mutet sie wie eine Rechtfertigung gegen den Vorwurf an, der Darsteller habe sich von Hollywood als japanischer Exote, als finsterer, falscher Asiat zu bösen Rassenzielen mißbrauchen lassen — was tatsächlich oft genug geschehen ist! — Rostislaw Jure-news „Alexander Dowschenko“ (Henschel-Verlag, Berlin, 326 Seiten) Dringt uns einen Regisseur näher, der den russischen Klassikern Eisenstein und Pudowkin ebenbürtig ist — leider haben wir von seinen 16 Filmen hier nur sehr wenige gesehen (zur Strafe für seinen Nonkonformismus?). — Wenn Helmut Pelzer den Regisseur „Vittorio de Sica“ (Henschel-Verlag, Berlin, 62 Seiten, 48 Abbildungen) als Armenanwalt und Sozialrevolutionär sieht, ist er der Wahrheit nahe. Der Erzkomödiant de Sica kommt freilich dabei zu kurz.

Die von Enno Patalas betreute „Cinemathek I Ausgewählte Filmtexte“ im Marion-von-Schröder-Verlag, Hamburg, bringt als Nummer 9 und 10 (je DM 6.80) die Drehbücher zu Jean-Luc Godards „Geschichte der Nana S.“ und Luis Bunuels „Tagebuch einer Kammerzofe“. Das Unternehmen bleibt fllm-wissenschaftlich ergiebig und interessant, auch dort, wo sich in uns heftige innere Widerstände gegen Gehalt und Gestalt regen.

Austriaca leguntur: auch Österreich ist in der Filmliteratur wieder präsent.

Schon zum neunten Male faßt der „Filmspiegel (IX)“ der Katholischen Filmkommission für Österreich unter wertvollen Zugaben zum Hauptteil die Kurzfassungen der Filmkritiken 1963/64 zusammen und bestimmt damit richtungweisend den weltanschaulichen und künstlerischen Standort des Films. — Verdient ist ein Förderungspreis für Volksbildung unseres Unterrichtsministeriums auf Dr. Augustin Kinzels Befragung von Kärntner Bürgermeistern, Kinobesitzern, Pfarrern und Schulleitern gefallen, die sich in der profunden Schrift „Film und Fernsehen auf dem Lande“ (Verlag „Neue Volksbildung“, Wien, 232 Seiten) niedergeschlagen hat. — Auch in Willi Liwanec' „Theater, Kino, Fernsehen“ (Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, 48 Seiten) steckt nicht nur pralles Zahlenmaterial, man kann auch eine gute Strecke weit mit seinen von sozialistischer Kulturpolitik bestimmten kritischen Gedanken zu Fortschritt und Freizeit mitgehen.

Wie notwendig alle diese Literatur und ihre Bewertung ist, bezeugt nicht nur die Sintflut der laufenden Filme, sondern auch die abundante „Internationale Filmbiographie 1963 bis 1964“ (Band 1 der Schweizer Gesellschaft für Filmwissenschaft und Filmrecht, Verlag Hans Rohr, Zürich, 80 Seiten), die allein für die letzten beiden Jahre 800 neue Titel nachweist und mit diesem ersten Supplement die große Züricher Filmbibliographie des Rohr-Verlages auf 3537 in- und ausländische Bücher seit 1952 ansteigen läßt.

Ihre kritische Sichtung ist so notwendig wie alle Stellungnahme zu den Filmen selbst.

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