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Einzelgänger zwischen den Fronten

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Hans Sahl, 1902 in Dresden geboren, gehörte vor 1933 zu den jüngsten Berliner Kritikern. Gleich ls Adolf Hitler an die Macht kam, begann sein Leidensweg, er flüchtete nach Frankreich und gelangte von dort 1941 nach Amerika, wo er noch heute lebt. In Deutschland wurde Sahl durch Übersetzungen von Theaterstücken Thornton Wilders, Tennessee Williams' und John Osborne bekannt; und die Leser der „Süddeutschen Zeitung“, der „Welt“ und der „Neuen Zürcher Zeitung“ kennen Ühn als New-Yorker Theater- und Kunstkritiker.

In dem vorliegenden Buch, das sicher weitgehend eigene Erfahrungen spiegelt, schildert der Autor die Schicksale eines deutschen jüdischen Emigranten, Kobbe, der während des. Krieges in New York, äußerlich nun endlich in Sicherheit, über sein Leben nachdenkt: über seine Berliner Jugend, seine Flucht durch die halbe Welt, das problematische Asyl in New York und über die unruhige Zeit, in die er hineingeboren wurde.

„Was haben wir anderes getan, als gewartet? Da war zunächst ein Krieg, und wir haben auf den Frieden gewartet. Und als der Krieg vorbei war, haben wir auf den nächsten gewartet ... und alles, was dazwischen lag, diese Zeit der halben, der enttäuschten und betrogenen Hoffnungen, war nichts als ein Provisorium. Wir haben auf die Republik gewartet, auf die Freiheit, auf den Aufstand der Unterdrückten; wir haben auf Marx und Lenin gewartet, auf das Gewissen der Welt und auf die Vernunft der Völker. Und immer hieß es: noch nicht! Wartet noch etwas! Bald wird es soweit sein! — O ja, wir waren sehr geduldig. Wir haben getan, was man von uns verlangte. Wir sind über Berge gewandert und durch Meere geschwommen, bepackt mit Theorien und historischen Einsichten, die uns helfen sollten, die Zeit des Wartens zu überstehen. Jetzt warten wir wieder ... überall warten Menschen auf etwas, ein Wort, eine Antwort, die ihnen sagt, was sie tun sollen, um nicht mehr warten zu müssen. Und wieder heißt es: noch nicht! . . . Und so wird alles wieder nur ein Provisorium gewesen sein. Provisorisch haben wir gelebt, provisorisch werden wir sterben . ..“ Um Kobbe gruppiert ist ein Kreis von Emigranten: Juden, enttäuschte und überzeugte Kommunisten, Anarchisten, Männer der bürgerlichen Linken — sie alle, bis auf die gläubigen Kommunisten, ratlos und wurzellos im Exil. Gespenstisch ihre Versammlungen, in denen sie überholte Ansichten aufwärmen, eine gestorbene Welt zu neuem Leben erwecken möchten. Die innere Hilflosigkeit des Flüchtlingsdaseins ist hier eingefangen, und es tut uns gut, ihr ins Auge zu sehen.

Sahls tiefstes Interesse gilt den Einzelgängern zwischen den Fronten, deren Prototyp Kobbe ist. Einer, der trotz allen Enttäuschungen, Irrtümern und Fehlschlägen nicht aufgibt, der weiter fragt: worum geht es im Leben, wenn er auch oft genug erfahren hat) daß es keine eindeutige Antwort auf solche Fragen gibt. Dieser Kobbe sagt sich auch, daß man immer wieder von vorn anfangen muß.

„Werden sie nicht eines Tages fragen: Uud ihr? Was habt ihr da draußen gemacht all die Jahre? Habt ihr eure Zeit nur mit Klagen oder Vorwürfen verbracht oder habt ihr etwas aus euch gemacht, etwas, das ihr uns geben könnt, wenn ihr einmal zurückkommt?“

Das Buch ist nicht eigentlich ein Roman, sondern gültiges Zeugnis einer Zeit, die weitgehend die Handlungsfreiheit des einzelnen aufhebt.

„Wir glauben zu handeln, und wir werden gehandelt. Niemand hat erreicht, was er gewollt, und niemand hat gewollt, was er erreicht hat.“ Es spricht für den Autor, daß er diese wenig tröstliche Einsicht ohne Bitterkeit entwickelt, mit sehr viel Haltung, der es nicht an das Schmerzliche verklärendem Humor fehlt.

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