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ÜBER DEN GEIST DER VERNEINUNG

Gegen die klösterliche Überspanntheit, gegen die Hysterie im Zusammenhang mit Visionen von Einsiedlern und Nonnen ist schon viel gesagt worden, und mit Recht. Aber wollen wir darüber nicht vergessen, daß diese schwärmerische Religiosität notwendigerweise und in ihrer Art viel gesünder ist, als unsere moderne Vernunftmoral. Sie ist schon darum viel gesünder, weil sie, mitten in dem hoffnungslosen Kampf um die sittlichen Werte, den Stevenson mit gewohnter Treffsicherheit den „aussichtslosen Kampf der Tugend“ nennt, sich der Idee eines endgültigen Erfolgs und Triumphs hinzugeben imstande ist. Jede moderne Moral kann dagegen nur mit starrer Überzeugung auf die Schrecken hinweisen, die der Übertretung des Gesetzes folgen. Sie kennt nur eine Gewißheit: die Gewißheit der Strafe. Sie kann nur die Unvollkommen-heit signalisieren, sie weise keinen Weg zur Vollkommenheit. Dem Mönch jedoch, der über Christus meditiert, schwebt im Geiste ein klares und reines Bild vollkommener Gesundheit vor. Er mag sich in die Betrachtung dieses Ideals der Ungebrochenheit und der Seligkeit länger versenken, als er sollte, er mag sich darin verlieren und dabei wichtige Dinge vernachlässigen oder versäumen, er mag schauen, bis er zum Träumer oder Fasler wird — dennoch ist es etwas Vollkommenes und Heilbringendes, worein er sich verliert. Er mag sogar wahnsinnig werden, so wird er wahnsinnig aus Liebe zur geistigen Gesundheit. Der heutige Student der Ethik aber, auch wenn er geistig gesund bleibt, bleibt es nur aus krankhafter Angst vor dem Wahnsinn.

Der Anachoret, der sich in ekstatischer Demut im Felsgeröll wälzt, ist von zutiefst gesünderem Gemüt als mancher gesetzte Mann, der im Seidenzylinder Cheapside hinunterspaziert. Denn ein solcher ist oft nur wegen seiner verblassenden Erkenntnis des Bösen gut.

Ich führe in diesem Augenblick zugunsten des Frommen nur an, daß er, obschon ihn die Frömmigkeit persönlich schwächen und verelenden mag, doch sein Sinnen und Trachten fest und imponierend auf eine gigantische Kraft und Seligkeit, auf eine Kraft ohne Grenzen, auf eine Seligkeit ohne Ende richtet. Zweifellos können gegen den Einfluß von Göttern und Visionen — ob in der Klosterzelle oder in der Öffentlichkeit — nicht mit Unrecht mancherlei Einwände erhoben werden: einen Vorteil aber wird die mystische Moralität immer haben: sie ist unter allen Umständen fröhlicher. Mag sein, daß sich ein junger Mann vom Laster dadurch freihält, daß er unausgesetzt die üblen Folgen bedenkt. Er kann sich aber auch davor bewahren, indem er beständig an die Jungfrau Maria denkt. Zur Frage steht, welche Methode die vernünftigere oder wirksamere ist. Was gesünder ist, steht aber ohne Zweifel außer Frage.

ÜBER DEN WEIN

Im Zusammenhang mit dem Problem des starken Trinkens ist mit einiger Heftigkeit eine neue Moral ausgebrochen. Die Enthusiasten dieser Moral rangieren von dem Herrn, der um halb ein Uhr mit Schwung hinausgeworfen werden muß, bis zu der Dame, die „American Bars“ mit der Hacke zertrümmert. In Diskussionen über dieses Thema wird es fast immer als sehr klar und maßvoll empfunden, wenn man die Meinung äußert, Wein oder ähnliche alkoholische Getränke sollten nur als Medizin genossen werden. Dagegen wage ich heftigen Protest einzulegen. Die einzig wirklich gefährliche und unmoralische Art des Weintrinkens ist, ihn als Medikament zu sich zu nehmen. Der Grund dafür ist der: trinkt unsereiner Wein zu seinem Vergnügen, so versucht er sich etwas außergewöhnlich Gutes zu verschaffen, etwas, er nicht zu jeder Stunde des Tages erwarten kann und was er gar nicht stündlich zu bekommen trachtet, außer er rappelt ein wenig. Trinkt aber jemand Wein zu Gesundheitszwecken, so sucht er sich etwas ganz Gewöhnliches zuzu-bessern, etwas, was er haben muß, etwas, worauf er nur sehr schwer verzichten könnte. Wer die Ekstase eines Ekstatikers mit angesehen hat, dürfte unbeeindruckt sein im Verhältnis zu dem, der das Entzücken eines normalen Menschen erlebte. Das ist weit aufregender. Gäbe es eine Zaubersalbe und wir reichten sie einem kräftigen Mann mit den Worten: „Damit können Sie vom Stephansturm herunterspringen“, so würde er ohne Zweifel vom Stephansturm herunterspringen. Jedoch glaube ich nicht, daß er zur allgemeinen Belustigung den ganzen Tag lang herunterspränge. Reichten wir die Salbe aber einem Blinden mit den Worten: „Das befähigt Sie, wieder zu sehen“, er geriete in heftigere Versuchung. Es fiele ihm schwer, jedesmal, wenn er den Hufschlag eines edlen Pferdes oder das Singen der Vögel bei Tagesanbruch vernähme. Es ist leicht, sich das Festliche, aber es ist schwer, sich das Gewöhnliche zu versagen. Daher der Umstand, den jeder Arzt kennt, daß es oft gefährlich ist, Kranken Alkohol zu geben, auch wenn sie ihn benötigen. Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich damit nicht meine, die Verabreichung des Alkohols als Stimulans für Kranke sei unbedingt etwas Unverantwortliches. Aber der rechte Gebrauch des Weines — das ist meine Ansicht — besteht darin, ihn den Gesunden zu ihrem Vergnügen zu geben. Und das hat ein Gutteil mehr mit Gesundheit zu tun.

Die gesunde Regel erscheint in diesem Falle nicht anders als viele andere gesunde Regeln — als Paradoxon. Trinkt, weil ihr glücklich, niemals aber darum, weil ihr unglücklich seid. Trinkt niemals, wenn ihr euch ohne Wein miserabel fühlt, oder ihr werdet wie der fahlgesichtige Schnapsbruder im Elendviertel. Trinkt jedoch, wenn ihr auch ohne Wein bei guter Laune wäret, und ihr werdet euch fühlen wie der lachende Bauer in Italien. Trinkt nie, weil ihr es braucht, denn das bedeutet rationelles Trinken und den Weg zu Tod und Hölle. Trinkt jedoch, wenn ihr's nicht nötig habt, denn das ist irrationales Trinken und darin liegt die alte Kerngesundheit der Welt.

Aus dem Buche „Häretiker“, mit Bewilligung der Amandus-Edition, Wien

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