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„Wir alle sind süchtig“

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Aber wehe dem einzelnen. Roman. Von Evan H u n t e r. Uebersetzt von Arno Schmidt. 4 Ullstein-Verlag, Wien. 452 Seiten.

„Wir alle sind süchtig“, stellt Helen in diesem Roman fest. Und die Begründung, die sie gibt: „Wir sind alle voller Hoffnungen, Aengste und Enttäuschungen, und jeder von uns tariert sie auf die eine oder andere Art aus. ..“ Wenn der Süchtige dabei „drastischere Mittel“ verwendet, als es sonst Sitte ist, so ist dies sein konstitutionelles Pech. Die normale Mittellage ein ganzes Leben lang mit sich selbst auszuhalten (falls es diese Normalität überhaupt gibt!), scheint unmöglich zu sein. Wir brechen aus: in Betriebsamkeit oder Verbrechen. Wir brechen ein: in uns selbst, bleiben in uns verkapselt, umnebeln uns in unserem eigenen Körper und werden süchtig. Oder wir brechen durch: durch das Menschliche ins Göttliche, wenn sich Gott gnädig des Menschen erbarmt und ihn zu sich in Seine weiten Himmel holt — schon hier auf Erden und dann nochmals und wirklicher im Jenseits. Brüchigkeit in uns ist die Folge unserer Sucht und Süchtigkeit: wir sind immer auf der Suche ins Andere, als wir hier und jetzt sind, und darum brechen wir aus, ein oder durch.

Hunter hat die Geschichte eines heroinsüchtigen jungen Musikers geschrieben. Andy, der Trompetenbläser einer Jazzkapelle, verfällt dem Rauschgift, will es sich abgewöhnen, kann es nicht und stirbt an den Folgen eines versuchten Selbstmordes. Die hier geschilderte amerikanische Jugend ist modern, sentimental, bösartig, gutmütig, hilfsbereit, egoistisch — sie hat alle Fehler und Vorzüge des Jungseins, außer der Religiosität. — Dieser genial geschriebene Roman des jungen amerikanischen Autors enthält ein Meisterstück: durch die ganze Erzählung „geistert“ die Jazzmusik, und sie ist die Parallele zur Süchtigkeit: „Die frühere Machtfülle seines Hornes hatte einer stilleren, komplizierten Verspieltheit Platz gemacht, einer Art artistischer Könnerschaft. Doch war es immer noch packend wie einst, derselbe ruhelose Klang, als wolle er die Lösung aller Lebensfragen durch die Musik anstreben. Ein eigentümlicher Klang war darin, einsam irgendwie und dennoch ein Klang, der Mitgefühl zu erheischen schien, ein Klang, dem man hätte zu Hilfe eilen mögen, ein Klang, mit dem man sich einfach identifizieren mußte, als ob Andys

Ringen das eigene wäre, und ein Ringen, das weit über den Zuständigkeitsbereich bloßer Musik hinausgriff ... Man rang und man wollte, aber erreichte es nie, immer blieb man an die Erde gekettet, und sobald Andy aufhörte zu blasen, setzte auch sogleich die grausame Ernüchterung ein, dies Gefühl, als hätte man beinahe, um ein Haar, die Lösung gehabt, und in die Ernüchterung mischte sich doch wieder ein tröstliches Gefühl des Fast-Vollendeten, weit war man nicht mehr, nur ein kleines Stück des Weges noch, und man würde anlangen, wenn man nur aushielt, wenn man nur die Dünste beiseite blasen konnte und alles Gesuchte finden, ein Wissen, daß die Erfüllung nahe war und daß sie... Besser, das zu haben . ..

Selbst... selbst die Ahnung nur der Erfüllung .. 5 denn die meisten haben ... Nichts, gar nichts.

Seine Musik höhlte aus. Müde blieb man zurück, ausgelaugt; und doch wieder auch erfüllt von seltsam traurigem Glück.“

In dieser Richtung müßte man die Wesensbestimmung und Bedeutung der Jazzmusik suchen. Man käme dem Verständnis unserer Süchtigkeit näher. Man fände leichteren Zugang zum verantwortungsscheuen Zeitgenossen. Vielleicht würden wir uns und unsere Gegenwartsgeschichte leichter und barmherziger begreifen lernen. Die Diagnose könnte vollständiger werden. Allerdings: von da zu' Therapie könnte sich der Weg noch mehr verlängern und schwieriger werden. Denn es scheint nur noch der Durchbruch in den Heiligen Geist helfen zu können und auch — erwartet zu werden. Aber den können wir nicht machen. Der muß erduldet und wach aufgenommen werden.

Welt im Umbruch. Von Leo L a n i a. Forum-Verlag, Wien-Frankfurt

Es ist ganz merkwürdig- Die Rohstoffsammlungen und Zettelkasten, die Tagebücher und Gedankenskizzen für einen, für den Gesellschaftsroman unserer Zeit türmen sich bereits zu Bergen. Und noch immer ist er nicht geschrieben. Gesellschaftsroman der

Jahrhundertmitte, das könnte nur eine echte Bewältigung der Probleme unserer Väter sein, die Probleme der zwanziger und dreißiger Jahre. Die napoleonische Epoche wurde dichterisch weder durch die Zeitgenossen noch durch die spätgeborenen historischen Genrebildner bewältigt, sondern durch Stendhal und Tolstoi, die aus ihr herausgewachsen waren, sie in Ausläufern noch erlebt hatten und so erst den Spannungsbogen fanden, der allein ein episches Gewölbe zu tragen vermag. Leo Lania läßt keinen, Zweifel darüber, daß er ein Journalist, ein „rasender Reporter“ ist, dem die subjektive Tendenzschärfe, aber auch die funkelnde Feuilletonistik Egon Erwin Kischs weniger liegt als die Freude am kommentierenden Begleittext. Dort, wo er Tatsachen und Persönlichkeiten beschwört, Einzelheiten dokumentiert, ist er am stärksten. Wo er Nutzanwendungen und Theorien versucht, erweckt er Widerspruch,

Wenn er etwa gleich auf der zweiten Seite seines Vorworts die Behauptung aufstellt, daß die österreichischen Christlichsozialen den Kampf gegen die Juden an die Spitze ihres Programms gestellt hätten, so ist dies eine Behauptung, die ihm heute nicht einmal die gegnerische Presse im Wahlkampf abnehmen würde. Der Wert dieses durch Kriege, Verfolgung, Emigration und Gefahren vieler Art gegangenen Lebens, das in der ausklingenden Monarchie beginnt und in der Auseinandersetzung um McCarthy in Amerika schließt, ist die Summe von Einzelerfahrungen und Einzeltatsachen. Daß ihm die Auseinandersetzung mit den bestimmenden geistigen Mächten ebensowenig gelingt wie anderen, kann man dem Journalisten und Reporter kaum zum Vorwurf machen. Wieder ein Werk für die Schreibtischbibliothek des künftigen Romanciers!

Friedrich Abendroth

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