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Mut mit Brecht

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Eine neun Seiten umfassende Kalendergeschichte von Bert Brecht diente als Vorlage für den Streifen „Die unwürdige Greisi n“. Dieser Film ist alles andere als ein Publikumsfilm und stellt nicht nur in dieser Hinsicht ein Wagnis dar, schließlich ist eine französische Brecht-Verfilmung keine Alltäglichkeit.

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Eine neun Seiten umfassende Kalendergeschichte von Bert Brecht diente als Vorlage für den Streifen „Die unwürdige Greisi n“. Dieser Film ist alles andere als ein Publikumsfilm und stellt nicht nur in dieser Hinsicht ein Wagnis dar, schließlich ist eine französische Brecht-Verfilmung keine Alltäglichkeit.

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Regisseur Rene Allio — ehemals Bühnenbildner — hat jedoch die Handlung ins Marseille von heute transferiert und sie dadurch bereits zu einer typisch französischen gemacht Dabei beweist Allio in mehrfacher Hinsicht Courage: erstens dadurch, daß er in den Mittelpunkt seines „Debütfilms“ eine etwa sechzigjährige Frau stellt, die in den hier gezeigten Episoden wirklich nichts Aufregendes erlebt, zweitens, indem er das Ganze durchwegs im herkömmlichen Stil, ruhig, konventionell-sauber inszeniert. Es ist somit ein stiller, besinnlicher Streifen geworden, aber ein Film wie aus einem Guß. Der Gedanke, einmal die Lebensfreude eines alten Menschen zu zeigen, ist filmisch bisher noch nie in dieser Deutlichkeit und Einprägsamkeit vor Augen geführt worden. Der Geist Brechts dringt natürlich nur noch an wenigen Stellen durch, am besten noch in einer Szene bei einem literarisch gebildeten Schuster, die übrigens zu den eindrucksvollsten des gesamten Film gehört. Bezaubernd aber ist der Streifen gerade in jenen Szenen, in denen überhaupt nicht gesprochen wird, in denen die alte Dame*mjr wie vrkläüt durch <$ie Straßen geht, die Geschäfte betrachtet und das Leben zum erstenmal bewußt und intensiv erfühlt. Dabei spielt die Hauptdarstellerin Sylvie eigentlich nur durch den Ausdruck ihrer Augen, aus denen eine ganze Gefühlsskala entgegenstrahlt.

Der 46jährige Schriftsteller und Journalist Michel Cournot setzt mit seinem ersten Spielfilm „L e s Gauloises bleues“ dort fort, wo die „Neue Welle“ vor einiger Zeit aufgehört hat. Wie viele Regisseure dieser Stilrichtung kommt auch er vom Journalismus her — er war Filmkritiker — und ging eines Tages daran, es auch einmal selbst zu versuchen.

Glückliches Frankreich, in dem es Leute und Möglichkeiten dafür gibt. — Eine Handlung im üblichen Sinn gibt es in Cournots Film nicht, der Regisseur selbst meint, das Drehbuch für „Les Gauloises bleues“ habe zu diesem Film das gleiche' Verhältnis wie ein Katalog über Flugzeugteile zu einem Transatlantikflug — es sei ein Werkzeug, mit dem die Mannschaft den Film „baue“, und keine Übersicht könnte dem voraussichtlichen „Passagier“ — also dem Zuschauer — eine bestimmte Vorstellung von der Reise liefern. Es ist auch wirklich kaum möglich, eine Handlung nachzuerzählen, denn Counot liefert bei seiner „Schilderung des untersten Proletariats“ dem Zuschauer nur Handlungsteile in verschiedenen Zeitebenen, die noch dazu oft ineinander übergehen. Der Betrachter muß sich an Hand seiner persönlichen Eindrücke seine eigene Handlung assoziieren. Cournot abstrahiert munter bis zur totalen Un-verständlichkeit, macht aus seiner Freude darüber aber ebensowenig ein Hehl wie seine Darsteller, denen es sichtliches Vergnügen bereitet, einmal alle Konventionen über den Haufen zu werfen: Hier wird gezeigt, daß die stilistischen Möglicheiten des Mediums Film noch lange nicht erschöpft sind und zur Zeit in eine Richtung führen, die darauf abzielt, den Zuschauer aktiv in die Handlungstrestaltung einzube-ziiehen. Michael Weinmann

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