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Theater aus dem Geist der Sprache

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Was Sellner selbst .instrumentales Theater' nennt, bedeutet die Reduzierung des Menschen auf seine Funktion als Instrument . . . Wenn in der künftigen Maschinenwelt der Mensch auf das Roböter-leben reduziert wird, so behält dieser Regisseur recht, unter der Voraussetzung, daß es auch dann einen gibt, der dirigiert. Denn die Gnomen, Roboter und Instrumentalwesen hängen am Draht eines Einzelnen, der den Willen hat und die Freiheit und somit als Diktator oder Politbüro auftritt. Damit ist der Widerspruch aus Spiel und Stück herausgenommen. Das Wesen des Theaters ist ins Prähistorische .zurückverlegt, in jene Phase, als ein Priester da war und das Ritual vollzogen wurde. Damals gab es kein Publikum. Auch bei Sellner gibt es kein Publikum, dem das Miterleben und der Selbstvollzug des Widerspruchs freigegeben ist.“ So der kenntnisreiche Siegfried Melchinger in seinem „Theater der Gegenwart“.

Seit Sellner Hausherr in Darmstadt ist, und das geht jetzt schon in die achte Spielzeit, wird ihm vorgeworfen, er degradiere den Schauspieler zum Instrument, nehme ihm die Persönlichkeit und damit das Recht, sich in einer Rolle, durch sie und mit ihr auszuleben, sein Ich in die Rolle und diese in jenes einzuschmelzen. Wer Seilners vier Berliner Inszenierungen (Shakespeares „Troilus und Cressida“ und „Maß für Maß“, Schillers „Don Carlos“ und Kleists „Käthchen von Heilbronn“), wer in Recklinghausen Goethes „Iphigenie auf Tauris“ und Shakespeares „Sturm“, in Darmstadt „Camino Real“ von Tennessee Williams, Ionescos Einakter „Die Unterrichtsstunde“ und „Opfer der Pflicht“, die „Elektra“ des Sophokles in der neuen Uebersetzung von Schadewaldt, Musils „Schwärmer“ und zuletzt, wieder in Schadewaldts Uebersetzung, die „Ly-sistrata“ des Aristophanes, mit der Sellner Gast bei den Festwochen ist, gesehen hat — der wird zugeben, daß Sellner den Schauspielern manches Recht beschneidet, das diese (und nicht die schlechtesten Beobachter des Theaters) jahrhundertelang für legitim gehalten haben.

Sind sie aber so legitim? Gewiß — Theater ist ohne den Mimus nicht denkbar. Reduziert man es aber auf den bloßen Mimus, dann verleugnet es seinen schließlich nicht zu übersehenden geistigen Ursprung, entartet entweder zur reinen Komödianterei, für die der Text nur noch Vorwand ist, oder steigert sich zur wortlosen Pantomime etwa Marcel Marceaus — was großartig, aber schließlich nicht Theater ist. Der Widerstand gegen Seilners Theorie und Praxis rührt zweifellos von einem eigenartigen Mißverständnis her. Dem Mißverständnis nämlich, daß Dramaturgie die Entmachtung des Schauspielers bedeute. Womit wir bei dem zentralen Punkt des Problems angelangt sind. Denn alle Formulierungen, wie instrumentales, choreographisches, literarisches Theater für Seilners Stil verwechseln Ursache und Wirkung — sein Theater ist dramaturgisch. Wobei er, um ihn selbst zu zitieren, unter Dramaturgie nicht einen literarischen Eklektizismus versteht, auch „keine Instanz, kein Machtbereich des Geistigen, der die anderen Komponenten des Theaters in eine ausführende Hilfsstellung verweise“. Dramaturgie ist für Sellner „eine Sicht. Eine klärende Sicht, die alle Bezirke des Theaters durchdringen soll. Wenn man den Begriff der Dramaturgie als den einer hilfreich klärenden geistigen Durchdringung aller Gebiete des Theaters denkt, wird es notwendig erscheinen, daß jeder, der an einer Aufführung mitarbeitet, .dramaturgisch' arbeitet.“ In der Konsequenz heißt das: auch der Bühnenbildner und vor allem der Schauspieler muß dramaturgisch arbeiten, er muß also in der Lage sein, „seine Rolle innerhalb der ganzen Dichtung zu sehen“.

• Ist das eine Entthronung des Schauspielers? Mitnichten. Natürlich ist es die Entthronung des naturalistisch-psychologischen Schauspielers, den Sellner als „etwa auf der Ebene des römischen Kaiserzeittheaters“ angesiedelt sieht. Der naturalistisch-psychologische Schauspieler spielt nach Sellner „mit der Rolle zugleich sich selbst, mit ihren Empfindungen zugleich seine eigenen Emotionen. Indem er naturgetreu zeichnet, verliert er die Genauigkeit des Wortes. Das Wort ist auch nicht mehr wesentlich. Wesentlich ist die Handlung, sind Erregung und Spannung. Die Handlung (die Aktion) fasziniert den Zuschauer, sie saugt ihn ein und bindet seine Phantasie. Er wird zum Bestandteil einer Masse mit parallel geschalteter Aufmerksamkeit. Es entsteht keine Gemeinschaft.“ Für Sellner ist das alles und mit Recht eine Verunreinigung des Theaters. Sein Theater ist unbequem, für den Zuschauer nicht weniger als für den Komödianten. Theater aus dem Geist der Sprache ist für Sellner ein „Theater der Bilder“, die Bühne ein „Ort des Zeigens“. Sprache aber ist Zeichen, und das „fordert vom Schauspieler Klarheit, Aufrichtigkeit und Sauberkeit der Mittel, die Voraussetzung dazu das sprech-technische Können bis in jede Form der Sprache hinein, wie Körperbeherrschung bis in die Pantomime, damit er mit seiner ganzen Person einzig das auszudrücken vermag, was die Worte des Dichters, was Sprache, was Bilder, nicht seine eigenen privaten Gefühle ihm diktieren. Es fordert das Bild des Inhalts (nicht der Historie), das genaue Hineinhören in die Dichtung (nicht das Hinein-tun, die .Zutat'), fordert die Ebene, auf welcher der Inhalt in seiner Vielschichtigkeit sichtbar wird (nicht das .Milieu').“ Mit dieser genauen Abgrenzung sind dem Schauspieler aber Möglichkeiten erschlossen, die viel größer sind als die des psychologischen Theaters. Der Schauspieler wird zum Mit-Dichter. Er ist eben nicht nur Instrument, nicht Marionette am Draht des Regisseurs, er ist schöpferisch als „dichtender, tanzender, musizierender Spieler“.

Von dieser Sicht aus ist es nur verständlich, daß Seilners Stil in einem hohen Grade choreographisch ist. Choreographie aber nicht als id

Selbstzweck verstanden, sondern als notwendige Folge des Dramaturgischen. Und da die Dramaturgie vom Geist der Sprache bestimmt ist, heißt Choreographie hiei nicht willkürliche Auffüllung des Textes, sondern Erfüllung, Nachdichtung des Textes, auch in der Bewegung. Gewiß kann das alles einexerziert wirken, wenn der Schauspieler nicht mitdenkt, nicht mitschafft, nicht mitschöpferisch tätig ist. Hier liegt die Schwierigkeit jeder Rückführung des Theaters auf das Wort, die Sprache, den Geist der Sprache. Nehmen wir ein Beispiel, das mir charakteristisch für Seilners Spiel zu sein scheint: Robert Musils „Die Schwärmer“, die Sellner nach der längst vergessenen Berliner Uraufführung in den sagenhaften zwanziger Jahren vor drei Jahren wieder ans Bühnenlicht geholt hat. Die Figuren in Musils „Schwärmer“ sind keine Charaktere mehr, sondern Instrumente, die auf die verschiedenen Ereignisse ganz verschieden reagieren, deren Meinungen je nach der Situation wechseln. Wobei ihr menschlicher Kern unberührt bleibt, denn was sich wandelt, sind nur die Reaktionen. Die Menschen sind Katalysatoren der auf sie zukommenden Ereignisse. Bei ihnen sind alle Entscheidungen möglich, und eben deshalb entscheiden sie sich nicht selbst, sondern lassen die Ereignisse, die Stimmungen, das Unwägbare über sich entscheiden. Dabei sind sie keineswegs im Sinne einer antiquierten Schicksalsergebenheit passivisch, aber ihre Aktivität ist bestimmt durch die bis zum letzten gesteigerte Bewußtheit, und dadurch ist sie folgerichtig gelähmt. Als man das psychologisch spielte, vor dreißig Jahren in Berlin, war die Wirkung gleich null. Sellners Stil traf die Situation der Menschen Musils haargenau, und seine Spieler waren völlig selbständige, eigenschöpferische Interpreten, die das Theater der Emotion und der Psychologie allerdings weit hinter sich gelassen haben.

Ein anderes Beispiel, diesmal aus der Klassik: Sellners Recklinghausener Inszenierung der „Iphigenie auf Tauris“ von Goethe, die wir im vergangenen Jahre in Berlin als Gastspiel sahen. Sellner entfernt aus dem Schauspiel allen falschen „klassischen Glanz“, da ist nichts mehr von „edler Einfalt, stiller Größe“. Hier werden die Bezüglichkeiten zu unserer Welt aufgespürt und herausgearbeitet. Vom Wort her, vom Geist des Stückes und von seiner Melodie entwickelt Sellner das Theaterstück, setzt die Melodie in choreographisch bestimmte Bewegungen um und läßt das Wort, einmal dank der Musikalität der Inszenierung, dann dank der sprachlichen Intensität seiner Darsteller plastisch werden. Erstaunlich, wie durch eine solche musikalische Behandlung des Wortes, durch die Gliederung der Verse, durch die sinnfällige Zusammenfügung die innere Handlung nach außen projiziert wird. Wobei ganz unversehens die sonst meist verwischte Dialektik aufgedeckt wird. Die Monologe werden zu Diskussionen der Figur mit sich selbst, und die logisch in Spruch und Widerspruch durchgeführten Dialoge bekommen hier eine Fülle von dramatischen Akzenten.

Wie in der „Iphigenie“, so ist Sellners Bühne meist ungegenständlich; gegenständlich wird sie nur da, wo die Dichtung das Gegenständliche fordert. Seine „Schräge“ ist also nicht ein konstruiertes Stilelement, sie ist logischer Teil der ganzen Konzeption. Alles, was den geistigen Gehalt des Stückes stören könnte, wird entfernt. Der Schauspieler allein hat also die Aufgabe, die Szene zu füllen, mit dem Wort, der Gestik, der Mimik, der Bewegung. Der Regisseur kann das Spiel nur lenken, die Szene füllen kann er nicht, dazu braucht er den mitdenkenden, den instrumentalen Schauspieler, der alles andere als ein Roboter ist, der seine ganze Persönlichkeit einsetzt im Dienst am Geist der Sprache.

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