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Alltag der Schamlosen

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Scham und Kultur gehören zusammen, leben in einem Verbund in allen Kulturen. Afrikaner und Indianer, Chinesen und Inder, Griechen und Römer, Germanen und Alteuropäer, Christen und Nichtchristen pflegen die Scham.

Diese Scham kann auf sehr verschiedene Zonen, Lebensbereiche zentriert sein, sie muß keineswegs auf Genitalien fixiert sein wie in prüden, puritanischen, viktorianischen, bourgeoisen Epochen. Die Verengung, ja die ausschließliche Fixierung etwa auf den letzteren Bereich kann oft pathologische Züge tragen.

Ubersehen wurde bei deren Anprangerung etwa von jungen Radikalen, daß gerade die geschlechtliche Scham ein weites Panorama bildet: von einer für Leib und Seele, für den ganzen Menschen gesunden Pflege von Intimzonen und Intimakten bis zu jenen pathologischen Verzerrungen, die in Geschlechtsangst aller Art Menschen verkrümmte, verkümmern ließ.

Die Einschränkung der Scham auf Bereiche des „Obszönen“, dessen also, was deutsche Aufklärer (gegen den „obszönen“ Voltaire), was Bürger und Spießbürger aller Couleurs (heute gerade in der offiziellen Doktrin und Literatur und Kunst der Sowjetunion betont herausgestellt) an den Pranger stellen, hat der guten, stark- mütigen, gesunden Schampflege nicht genützt, sondern nur geschadet.

Durch diese Einengungen wurde ein Prozeß gefördert, der ein gesellschaftliches Phänomen ersten Ranges ist, der von den Produzenten von Schamlosigkeiten selbst und von der „Öffentlichkeit“ gar nicht beachtet, gar nicht zur Debatte gestellt und bekämpft wird.

Es ist dies die Schamlosigkeit, die von Politikern lauthals betrieben wird, wobei bei ihrer Produktion die Gesichter, die Körperhaltung der Produzenten zeigen, daß diese selbst sich in keiner Weise „betroffen“ zeigen.

Die Schamlosigkeiten, von denen hier die Rede ist, die uns täglich überfluten, auch auf dem Bildschirm, werden in den Reden, werden in Interviews, werden im „täglichen Parteienverkehr“, hier als gegenseitige Denunziation, Beschimpfung, Verspottung, Verhöhnung verstanden, von „unseren“ Politikern produziert.

Sie fallen gar nicht auf. Dagegen fällt ein Politiker auf, der nie sich auf diese tages- und nachtüblichen Schamlosigkeiten einläßt.

Diese Schamlosigkeit, mit der da gelogen wird in jener primitiven Art, die von der geistigen und seelischen Primitivität, Klobig- keit, schlechten Provinzialität gerade „gestandener“ Politiker

Zeugnis ablegt, bildet die breite Landschaft, an deren anderem Pol Schamlosigkeit sich bekundet in der Gewissenlosigkeit, mit der dahergeredet wird, wider besseres Wissen, auch aus Gründen der Parteidisziplin, obwohl Freunde und Intimfeinde des Produzenten dieser Schamlosigkeit in der eigenen Partei sehr gut wissen, „daß er es eh gar net so meint.“

Manche Politiker sagen in einer Woche täglich vor dem Fernsehschirm dasselbe, ohne auch nur eine Modulation zu versuchen. Was da so täglich, allabendlich weggeredet, von der Öffentlichkeit akzeptiert, still akzeptiert wird - nur einige junge Menschen, einige Frauen (quer durch alle politischen Fronten) und einige ältere Menschen sind darüber noch entsetzt!

Die Gewöhnung an das breite Panorama von Schamlosigkeiten, das uns täglich serviert wird wie eine Grießnockerlsuppe, eine Leberknödelsuppe, als Einheitssuppen in Gasthäusern, bildet ein wesentliches Element der permanenten Verschlechterung unseres politischen Klimas.

Aufschreie von Politikern, wenn ein Gegner die Schamgrenze überschreitet, die sie doch wahrnehmen, wenn es ihnen sehr persönlich an die Haut, unter die Haut geht, leiten keine Bildung eines neuen Bewußtseins, keine Sensibilisierung des Gewissens ein.

Nach einem gereizten Schlagabtausch kehren die Gegner zum Alltag zurück, zu dem tagesüblichen Maß von Gerede, von „Erklärungen“, von Versicherungen, man wolle Katastrophen (in der Natur), „Mißstände“ (von Menschen produziert) bekämpfen — wobei sie selbst und die Öffentlichkeit sehr gut wissen, daß praktische Besserung, Verbesserung unserer Verhältnisse in weiter Ferne liegen, oft nie auch nur angegangen werden, obwohl dann nach etlichen Jahren, bei neuen Mißlichkeiten, Katastrophen, Fehlleistungen, Skandalen, von denselben Politikern schmalzig und selbstbewußt eine „rasche Behebung“ versprochen wird.

Was ist zu tun? Uns fehlt eine Hygiene, eine politische Hygiene, eine Hygiene des Auftretens in der Öffentlichkeit, die nicht einmal als ein Begriff „unseren“ Politikern (die „weißen Raben“ ausgenommen) bekannt ist. Diese Hygiene ließe sich so leicht lernen wie das Zähneputzen.

Sie müßte nur „einfach“ immer wieder intern, in den Gremien der Parteien, zur Sprache gebracht werden: eine Einforderung zu wirklicher, nicht erlogener „Sachlichkeit“, Verzicht auf die bequeme, allzu bequeme tägliche Produktion derselben Worte, dersel- ‘ ben Redensarten, derselben Klischees. Fünf Minuten Besinnung bei parteiinternen Konferenzen: Wer macht den Anfang?

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