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Das Gähnen einer Mücke

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Es gibt nichts Schlimmeres, den „Tatort“ vielleicht ausgenommen, als politische Diskussionen im Familienkreis an - ohne dieselben - friedlichen Sonntagabenden. Allerdings haben bei uns sämtliche Diskussionen den Keim des Politischen in sich. Das mag mit der Tatsache zusammenhängen, daß der Mensch eben ein „zoon politikon“ ist; aber noch mehr hat es gewiß damit zu tun, daß erstens meine Schwiegermutter einen Gutteil ihres Lebens in London gelebt hat und von daher neigt, alles mit „drüben“ zu vergleichen, zweitens unsere Kinder sich eine ungebrochene Verehrung für Bruno Kreisky bewahrt haben, drittens deren Mutter statistisch nachweist, daß die Anomalien des Wetters mit der Neuauflage der großen Koalition eingesetzt haben, daß viertens ich solche Diskussion nicht ausstehen kann und dieser Umstand fünftens allen Mitgliedern der Familie bekannt ist.

An diesem Sonntagabend machte der Herr Solan den Anfang. Diesmal war es der auf den ersten Blick politisch absolut unverdächtige Hinweis darauf, daß die Tage bereits spürbar länger und die Nächte kürzer werden — „um exakt siebenundzwanzigein-halb Minuten gegenüber Winterbeginn“.

„Ihr mit eurer sogenannten Exaktheit, mit eurer Wissenschaftlichkeit, dieser widerwärtigen Krücke statt der echten Natur!“

Das war eine klare Kampfansage des Herrn Gymnasiasten, dieses die Gegenwelt der Erwachsenen umfassende „ihr“ und „euer“.

Meine Frau machte meinen Versuch, den Krieg der Worte durch hartnäckiges Uberhören zu vermeiden, dadurch zunichte, daß sie die große Koalition ins Spiel brachte, die immerhin bisher daran nichts zu ändern vermocht habe, daß ab Winterbeginn die Tage wieder länger und die Nächte kürzer werden.

„Aber diese idiotische Wissenschaftlichkeit, dieser perverse Exaktheitswahn, diese Unkultur der Pünktlichkeit — alles das ist doch viel älter als die große Koalition! Das reicht zurück in die Französische Revolution, in die Aufklärung, in die Renaissance — und bis Aristoteles mit seiner Zergliederung des Denkens statt der Ganzheit des Ostens.“ Was die Kinder heute alles in der Schule lernen!

Mein gutgemeinter Hinweis darauf, das dekadische System hätte doch gewiß Vorzüge gegenüber dem Chaos von einem Jahr zu 365 Tagen — und nicht einmal das sicher, wie 1988 beweise -, der Woche mit sieben Tagen, dem Tag mit 24 Stunden, der Stunde mit 60 Minuten und so weiter, rief die Schwiegermutter auf den Plan. Von ihrem Strickzeug aufschauend — das Weihnachtsfest ist für sie in dieser Hinsicht keine Zeitenwende —, griff sie in die Diskussion ein.

„Drüben“, sagte sie, und das war die klassische Eröffnung, „sind eure Revolutionen nicht wirksam geworden. Dort gibt es immer noch ounces, pounds und stone, inches, feet und miles, pints, quarts und gallons.“

Nicht nur große, auch innerfamiliäre Koalitionen kommen auf nicht immer durchschaubare Weise zusammen. Unser Sohn jedenfalls ging sofort eine mit der Schwiegermutter ein: „Ihr müßt immerhin zugeben, daß wir uns mit dem metrischen System vom Maß der Natur, vom Pulsschlag des ursprünglichen Lebens, weit entfernt haben. Handbreit, Elle, Klafter, Joch — das war noch ursprünglich. Oder ein Fuß, der in Indien und Babylonien der Länge von 27 Gerstenkörnern entsprach. Was ist dagegen ein Meter! Eine lächerliche Hilfskonstruktion, als 40millionster Teil eines Erdmeridians oder als x-faches der Wellenlänge des roten Cadmium-lichts!“

Die Sportsendung war glücklich vorüber, und ich hatte nur mit einem Ohr vom schwachen Abschneiden unserer Schimädchen gehört. Jetzt half nur noch repressive Toleranz: „Alles zugegeben, wenn man auch einen Abfahrtslauf nur schwer mit der Sonnenoder mit der Sanduhr stoppen kann. Aber was kann der Belcredi dafür?“

„Er ist mit seinen .exakt sie-benundzwanzigeinhalb Minuten“ Ausdruck für diesen Irrweg. Früher war die Natur das Maß, und...“

„Früher gab's auch keine Polioimpfung und keine freie Schulfahrt“, fiel die Mutter dem Sohn ins Wort. „Aber das wird die große Koalition auch noch schaffen.“

„Ein Beitrag für die Volksgesundheit“, ließ sich die Schwiegermutter, mehrdeutig wie das Delphische Orakel, vernehmen, ausnahmsweise ganz ohne Hinweis auf das Vereinigte Königreich.

„Und was hättest Du an Belcre-dis Stelle gesagt“, unterbreitete ich dem Herrn Sohn ein Friedensangebot.

„Wie Oma“, war seine lakonische Antwort. „Die hat gesagt, daß sich die Tage so längen: Am Christtag um das Gähnen einer Mücke, am Neujahrstag um den Schritt eines Hahns, an Dreikönig um einen Hirschsprung —“

„Und zu Lichtmeß um eine Stund'“, vollendete die Schwiegermutter.

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