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Das Geschenk
Die Frau ist alt. Man sollte morgens nicht mehr in den Spiegel schauen. Sie legt ihn hin, mit dem Glas nach unten.
Sie geht ans Fenster. Sie sagt: „So ein Nebel."
Ihr fällt ein, daß sie jeden Tag sagt: „So ein Nebel." Mindestens einmal am Tag, bevor sie sich in ihren Farben verkriecht, damit die Einsamkeit sie nicht findet.
Das runde Turmzimmer ist voll von gemalten Träumen. Der
Wohnturm steht mitten in der Stadt. Er hat so viele Stockwerke, daß das Versagen des Fahrstuhls einer Katastrophe gleichkommt.
„Mein Wohnturm", sagt die Frau und hat vergessen, daß Hunderte von Mietern in dem gleichen Gebäude den gleichen Anspruch stellen könnten.
„Mein Himmel", sagt die Frau. Sie wohnt im obersten Stockwerk, ist dem Himmel am nächsten.
Das Wohnzimmer ist rund. Der Architekt war modern. Der Architekt feinfühlig. In einem runden Zimmer stößt man sich nicht. In einem runden Zimmer lagert sich nichts in den Ecken ab. Nichts.
Seit Wochen Nebel. Seit Tagen kein Mensch. Im Kalender steht
der 23. Dezember. Die Frau sieht noch immer zum Fenster hinaus.
„So ein Nebel", sagt sie. Sie denkt an Engel.
Als es klingelt, erschrickt sie.
Ein Mann steht draußen, klein, dick. Es ist der Zeitungsmann. Er kommt kassieren.
„Sind Sie zu Fuß?" Der Mann nickt stolz.
„Aber der Fahrstuhl..." Der Mann schüttelt den Kopf. Er braucht keinen Fahrstuhl. Er ist gut beieinander. Sein Gesicht ist tomatenrot, seine Augen sind knallblau.
„Kalt draußen." Er steht in der Diele.
„Bitte kommen Sie herein." Der Mann steht im Wohnzimmer. Er geht zum Fenster.
„Der Nebel reißt bald auf." Wie er das sagt, das duldet keinen Widerspruch.
Etwas wandert von einer Hand in die andere, weil ja morgen Weihnachten ist. Der Mann steckt es ein und nimmt seine gestrickte Mütze ab.
„Jetzt kriegen Sie auch ein Geschenk von mir."
Er fängt an, laut zu singen: „Vom Himmel hoch, da komm ich her."
Er hat seinen Atem nicht auf der Treppe gelassen. Er singt kräftig und sorgfältig und spricht die Endsilben und Konsonanten deutlich aus. Seine Mütze hält er mit beiden Händen vor dem Magen wie ein Sänger die Noten.
Die alte Frau sieht ihn an. Er nickt ihr zu. Da singt sie die letzte Strophe mit.
„O du fröhliche" singen sie zweistimmig. Nach der dritten Strophe sehen sie sich an und lachen.
Sie gehen zur Tür und lachen.
„Warum lachen Sie denn so?" fragt die Frau.
„Ich freu mich. Immer wenn ich singe, freu ich mich, und wenn ich mich freu, muß ich lachen. Und Sie? Warum lachen Sie?"
Die Frau macht die Tür auf.
„Ich? Bei mir ist das anders. Ich will's Ihnen verraten. Ich kann nämlich gar nicht singen."
Ihr Gelächter hallt durch die Stockwerke. Der Mann sagt lachend:
„Jetzt muß ich gehen."
Sie hört ihn lachen. Immer weiter weg. Und dann singt er wieder. Sie hört ihn noch singen und lachen, als sie jhn gar nicht mehr hören kann.
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