6986074-1986_26_23.jpg
Digital In Arbeit

Vor dem kleinen Eissalon

Werbung
Werbung
Werbung

Die wahren Tragödien spielen sich nicht auf Bühnen ab, sondern auf der Straße, in Zimmern, auf Parkbänken, in Bahnhöfen, an Arbeitsplätzen, an diesen kleinen Tischen in zweitrangigen Cafes und Restaurants. Auch in erstklassigen.

Diesmal ist's eine Bus-Haltestelle vor einem Lebensmittelgeschäft. Der Bus läßt auf sich warten.

Mit mir warten zwei Jungen, der eine dunkelhaarig, mit dunklen Augen, dünn und lebhaft, wie ein schöner kleiner Zigeuner sieht er aus, der andere drei Köpfe länger, stämmig, semmelblond, mit teigigem Gesicht und wasserblauen Augen. Der kleine Zigeuner, vielleicht zwölf, der andere fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Der Kleine trägt einen leichten dunkelblauen Mantel, der andere weiße Samtjeans, weißen Pullover, weiße Tennisschuhe von der teuren Sorte. Der Kleidung nach, scheinen beide aus Häusern zu kommen, in denen Geld keine Rolle spielt, wie man so sagt.

Der Große lehnt lässig an der Schaufensterscheibe, sieht nicht mal gönnerhaft auf den Kleinen herunter, sieht über ihn weg. Der Kleine himmelt ihn an, versucht ein Gespräch. Der Große hört kaum hin. Der Kleine studiert die große bunte Papptafel, die im Schaufenster hängt: Dutzende

von Eissorten, sehr naturgetreu abgebildet.

„Welches magst du am liebsten?“

Der Große stößt sich von der Scheibe ab, mustert die Tafel.

„Alle“, sagt er und verschwindet im Laden.

Als er wiederkommt, hat er ein Rieseneis. Er beginnt vor den Augen des Kleinen sehr langsam daran zu lecken.

Der schluckt: „Schokolade?“

„Ja. Und Trauben und Nüsse, auch ein Schuß Rum. Ausgezeichnet.“

Der Kleine versucht, wegzusehen. Es gelingt ihm nicht. „Meine Mutter sagt, vor dem Essen soll ich kein Eis ...“, sagt er schwach.

„Phhhhh“, macht der Große und dazu eine vernichtende Handbewegung.

Als er den letzten Brocken verschwinden läßt, schluckt der Kleine noch einmal und atmet auf.

Der Große mustert schon wieder die Tafel,.wirft einen Blick auf seine Super-Armbanduhr und verschwindet wieder in dem Laden. Der Kleine sieht ihm aufgeregt nach. Als der Große jetzt die

Tür aufmacht, strahlt der Kleine, und ich schäme mich, weü ich den Großen vorzeitig verdonnert habe. Denn jetzt erscheint er mit einem Riesen-Doppel-Eis, zwei langen Holzstielen, auf denen zwei genau gleich große Eisrollen sitzen, perfekt zum brüderlichen Teilen, man braucht sie nur in der Mitte auseinanderzubrechen. Der Große bricht sie in der Mitte auseinander, dicht vor den Augen des Kleinen, die wie Tollkirschen glänzen. Und dann steckt er sich mit jeder Hand eine Eisrolle in den Mund und beginnt schmatzend zu lutschen, weil zwei Eis schwieriger zu bewältigen sind als eins.

Ich drehe mich um, höre das nervöse Gelächter des Kleinen.

Ich drehe mich wieder um. Der Große zieht gerade die beiden Eisrollen aus dem Mund, und nun schleckt er so schnell, daß kein Tropfen verlorengeht.

Der Kleine tritt einen Schritt zurück* stolpert über die Schultasche des Großen.

„Paß auf!“ brüllt der ihn an, „da ist ein wertvoller Fotoapparat drin.“

Der Kleine stellt die Schulta-

sehe wieder auf, dann öffnet er seine und nimmt ein Briefmarkenalbum heraus, schlägt es auf.

„Sammelst du auch?“

Der Große nickt

„Hast du die?“

Der Kleine zeigt auf eine Marke.

Der Große nickt.

„Aber die hast du nicht. Die ist ganz selten.“

„Hab ich auch.“

„Aber die? Die ist kostbar. Und die... und die...?“

Der Große hat alle und alles.

„Weißt du“, sagt er gelangweilt, „das interessiert mich nicht.“

Der Kleine starrt ihn an.

„Warum sammelst du dann?“

Der Große würdigt ihn keiner Antwort, denn sein Bus kommt, der auch der meine ist.

Er läßt die beiden Holzstiele auf die Straße fallen, steigt vor mir ein, setzt sich auf den letzten freien Sitz, steckt Kaugummi in den Mund, sieht zum Fenster hinaus, zum anderen Fenster, von dem Kleinen weg.

Der steht draußen und sieht ihm nach, regungslos, sprachlos, blicklos, wie vereist.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung