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BesucK Lei Salome ? ? ?

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An einer lauten Straßenecke steht in dem großen Schaufenster ein Bild, und es füllt beinahe den ganzen verfügbaren Raum. Grüne Blattpflanzen zu beiden Seiten geben dem Ganzen ein festliches Gepräge. So viel Aufhebens geschieht nicht jedem Bild. Und was das Seltsamste an der Sache ist, gemessen an unserer Zeit, das Bild ist schon verkauft. Es ist nur zur Ehre und zum Gedenken des längst verstorbenen Meisters zur Schau gestellt. Kalt bläst der Wind durch die Gassen, aber doch bleiben immer wieder Leute betrachtend vor dem riesigen Gemälde stehen. Die einen in stiller Ehrfurcht vor dem großen Künstler, die anderen um Salomes willen. Diese wieder aus Neugierde, weil davon etwas in der Zeitung stand, jene, um im stillen Vergleiche zu ziehen mit der Kunst von heute.

Ein altes Frauchen steht plötzlich mitten unter der Schar der Betrachtenden. Mit den wenigen Haaren, die das Kapotthütchen freiläßt, spielt mutwillig der Wind.

Ein junger Mann, die Hände in den Taschen, möchte wissen, was es da zu sehen gibt.

„Den Tanz der Salome“, sagt das alte Frauchen einfach und freundlich.

„Aha“, meint er statt einem Dankeschön, davon habe er etwas in der Zeitung gelesen.

Er mustert das Gemälde wie einen Rennwagen auf seine Brauchbarkeit und wendet sich mit unverhohlener Herausforderung an die Betrachter. „Ganz schön, aber es gibt dem Beschauer wenig Raum zur Phantasie. Es sagt fast alles. Wir aber leben in einer Zeit der Probleme.“

„Zumeist künstlich gezüchtete Probleme“, sagt ein älterer Herr hinter ihm, „wir verlernen es, am Natürlichen Gefallen zu finden.“

Der junge Mann dreht sich lässig um, und seine Bewegung steht im seltsamen Gegensatz zu seiner angriffslustigen Rede.

„Künstlich? Künstlich, sagen Sie? Ich nehme an, Sie haben schon einmal Abbildungen von Zeichnungen der Höhlenmenschen gesehen. Können Sie vielleicht leugnen, daß die moderne Malerei, die Bildhauerei dieser Kunst sehr nahe kommt? Das ist Natürlichkeit in ihrer Urform.“

Das ist auch dem alten Herrn zuviel.

„Sie genügsames Eichhörnchen! Sie haben die Zeit verschlafen oder leben Sie vielleicht auch wie die Höhlenmenschen?“

Ein spärliches Lachen liegt auf den Gesichtern der anderen. Aber der junge Mann ist nun einmal in Fahrt, längst hat er die Hände nicht mehr in den Taschen. Mit großem Schwung wirft er einige Striche mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf das Glas des Schaufensters, hinter dem die schöne Salome mit ihren Schleiern tanzt.

„Sehen Sie, so und so, und hier der Strom, und das ist Phantasie und Einfachheit zugleich. Das Bild einer Stadt. Betiteln wir es die Stadt, wie sie der Sperling sieht.“

„Vorausgesetzt, daß er irrsinnig ist“, sagt der alte Herr.

Der andere ist außer sich. „Sie sind von gestern, mein Herr.“

„Das liegt jedenfalls nicht so weit zurück als der Höhlenmensch.“

Angesichts des meisterlichen Gemäldes wird die Debatte zur Groteske. Das alte Frauchen geht kopfschüttelnd davon. Ueber soviel Problematik ist sie in ihrer Weisheit längst erhaben. Achtsam trippelt sie durch den Schnee die Mauer entlang und drückt zögernd die Klinke der Geschäftstür nieder. Schüchtern bleibt sie drinnen stehen.

„Guten Morgen!“

Ihre Greisenfinger nesteln verlegen an dem altmodischen Samtpompadour herum.

„Bitte, darf ich das Bild genauer betrachten?“

Belustigt sehen sich die Verkäufer an.

„O bitte, natürlich“, sagt einer dann höflich.

Das schmächtige Frauchen steht in seiner Bescheidenheit wie verloren im großen Raum.

Mit kleinen Schritten geht sie beinahe an dächtig an das Bild heran. Die Verkäufer lächeln nicht mehr. Irgend etwas rührt sie seltsam an. Vom schwarzen dürftigen Mantel der Besucherin rinnt in perlenden Wassertropfen der Schnee.

Zaghaft geht sie hin und her, von allen Seiten das Bild betrachtend, nicht achtend der vielen erstaunten Gesichter an der Scheibe des Schaufensters. Sie ruht in sich selbst. Nichts stört ihre Betrachtung. Es liegt etwas Rührendes über der ganzen gebückten Gestalt. Die Wehmut alles Vergänglichen.

„Danke schön“, sagt sie nun zu den Verkäufern gewendet, „danke schön und entschuldigen Sie, daß ich so einfach hereingekommen bin mit meiner Bitte zu Ihnen, aber Sie müssen wissen, ich habe den Künstler noch gekannt.“

Sie hat den Künstler noch gekannt!

Das gibt ihr Ansehen.

Sie wird zur Rarität sozusagen.

Die alte Dame erschrickt fast vor soviel Verwunderung, die ihr bedrängend entgegenschlägt. Verwirrt schaut sie um sich und hebt abwehrend die kleinen Hände. Ein Stuhl wird ihr hingeschoben. Oh, sie hat wirklich keine Zeit, sich zu setzen. Fast ängstlich trippelt sie zur Tür. Halb öffnet sie diese, und der Winterwind wirft eine Wolke stäubenden Schnees herein. Das kleine zurückgewandte Antlitz ist kaum mehr zu sehen in den treibenden Flocken.

Wie von weither klingt die dünne Stimme.

„Ich muß es Ihnen sagen: Ich war das Modell zur tanzenden Salome.“

Die Tür ist zu. Ein Hauch der Vergäng- lichkeit schwingt durch den Raum. Vor dem Bild der schönen Salome liegen noch etliche Klümpchen Schnee auf dem Teppich, langsam zerrinnend, vergehend, wie alle Dinge dieser Welt.

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