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Das liebe Vieh

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Also gut: Bauschan aus dem Thomas-Mann-Idyll "Herr und Hund" hieß auch in Wirklichkeit Bauschan und war des Dichters Lieblingshund. Murr hieß Murr, und E. T. A. Hoffmann hat ihm einen Nachruf gewidmet, als wäre nicht ein Kater gestorben, sondern sein bester Freund. Und Platero -so nannte Juan Ramön Jimenez der Reihe nach alle seine Esel, die ihm, dem Menschenscheuen, in jungen Jahren Gefährte gewesen sind.

Aber nicht immer war es dieser direkte Weg, auf dem das Tier zum Sprung in die Literatur angesetzt hat. Als Felix Saiten die Gestalt des Rehs Bambi schuf, zog er die Summe ungezählter Beobachtungen, die er vom Hochsitz seines Jagdreviers aus gemacht hatte - im Wienerwald und am Attersee. Weil ihm seine Patenkinder überglücklich von ihrer ersten Katze berichteten, rückte T. S. Eliot mit den Geheimnissen seiner eigenen "practical cats" heraus. Den englischen Kavallerieoffizier Hugh Lofting regte das Elend der an der flandrischen Front des Kriegsjahres 1917 verwundeten Armeepferde zu seinen Doctor-Dolittle-Büchern an. Und damit Waldemar Bonseis mit seiner "Biene Maja" Erfolg haben konnte, mußte zuerst einmal sein Freund Bernd Isemann mit dem Ameisenroman "Nala und Re" scheitern.

Eines freilich ist ihnen allen gemeinsam, den zwischen Buchdek-keln galoppierenden, hoppelnden, robbenden, schleichenden, kriechenden, kletternden, flatternden, schwimmenden, sich räkelnden Kreaturen: Keine von ihnen ist vom Himmel gefallen. Mit einer Aus-nahme: Die Story von der Möwe Jonathan ist dem Amerikaner Ri-chard Bach, so beteuert er, von der Stimme eines außerirdischen Wesens eingeflüstert worden, druckreif diktiert.

So leicht hatten es die anderen Autoren nicht. Herman Melville mußte sein Leben als Walfänger aufs Spiel setzen, ehe er "Moby Dick" schreiben konnte; erst seine bitteren Erfahrungen als Ministe-rialbeamter im englischen Landschaftsschutz lieferten Richard Adams den Stoff für "Watership Down": die Saga vom heroischen Exodus der Wildkaninchen; und Munro Leafs pazifistische Parabel vom Stier Ferdinand, der lieber an Blumen schnuppert, als auf Mata-dore loszugehen, ist nicht ohne Grund knapp nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs erschienen.

Die Situationen freizulegen, aus denen Mickey Mouse und Kram-bambuli, Porgys Ziege oder der philosophierende College-Kater Thomas Gray hervorgegangen sind, ist ein spannendes Unternehmen: Sie haben mit Zufall und Alltags-banalität ebenso zu tun wie mit Inspiration und dichterischer Fa-bulierkunst. Hätte Wilhelm Busch nicht vor 125 Jahren seinem Bruder Gustav in dessen Konservenfabrik in Wolfenbüttel einen Besuch ab-gestattet, gäbe es keinen Unglücks-raben Hans Huckebein; hätte Alan Alexander Milnes Söhnchen Chri-stopher Robin nicht zum Geburtstag einen Kaufhaus-Teddybär ge-schenkt bekommen, gäbe es keinen "Winnie-the-Pooh"; und hätte Sel-ma Lagerlöf nicht, enttäuscht von dem ihr unzugänglichen Französisch der "Nouveaux contes des fees pour les petits enfants", die ihr die Eltern zu Weihnachten 1868 auf den Gabentisch gelegt hatten, umso intensiver die Illustrationen dieses Kinderbuchs betrachtet und sich an Gustave Dores Radierung eines Knaben ergötzt, der auf dem Rük-ken eines Vogels über Land fliegt, gäbe es keinen Nils Holgersson.

Daß "Jerry, der Insulaner" ein lebendes Urbild gehabt hat, bezeugt Jack London selbst im Vorwort seines Romans. Peggy hieß dieser "anbetungswürdige irische Ter-rier", der zur Mannschaft des Süd-see-Seglers "Minota" gehörte, sich dem Dichter und der ihn begleiten-den Ehefrau Charmian anschloß, von ihnen, als sie von Bord gingen, "schamlos und mit voller Überle-gung" entführt wurde, sein weiteres Leben an ihrer Seite verbrachte und schließlich an der australischen Ostküste sein Grab fand.

Eine aufmerksame Zeitungsleserin war die Schweizer Kinderbuch-autorin Louise Fatio. Als sie vor dem Zweiten Weltkrieg, auf Reisen mit ihrem Mann, dem Graphiker Roger Duvoisin, von der Panik erfuhr, die ein in einer französischen Kleinstadt ausgebrochenes Zirkustier ausgelöst hatte, ließ sie sich von dessen "friedlichem Spaziergang" zu der Geschichte inspirieren, die sie populär gemacht hat: "Der glückliche Löwe". Und ihr Mann steuerte die Illustrationen dazu bei.

Virginia Woolf vertiefte sich in Vdie Biographie ihrer Kollegin (und Hundenärrin) Elizabeth Barrett Browning, als sie die Story des empfindsamen Cockerspaniels Flush aufzeichnete; das Hasenpa-radies, das sich Francis Jammes für seine Franziskus-Fabel "Le Roman du Lievre" einfallen ließ, ist in der engeren Heimat des Dichters zu suchen: den französischen Pyrenäen zwischen Orthez und Tarbes; und einer speziellen "autorisation d'ar-tisteS", die Rilke den Besuch des Pariser "Jardin des Plantes" auch außerhalb der allgemeinen Öff-nungszeiten gestattete, verdanken wir die berühmten Gedichte "Die Flamingos" und "Der Panther". Der Däne Svend Fleuron war Jagdhüter, die Engländerin Beatrix Potter Tierpräparatorin, Arthur-Heinz Lehmann ein Pferdenarr, bevor sie darangingen, ihre Bücher zu schrei-ben, und Manfred Kyber kam aus dem aktiven Tierschutz. Aus der Überlieferung schöpften Schiller, als er die Ballade vom "Kampf mit dem Drachen", Goethe, als er das Epos von Reineke Fuchs, Ludwig Tieck, als er das Spiel vom Gestie-felten Kater ersann, und die Bremer Stadtmusikanten haben fran-zösische Vorfahren (mit denen die hugenottische "Viehmännin" die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm vertraut machte, als diese daran-gingen, altes Märchengut zu sam-meln und zu protokollieren).

Damit das "liebe Vieh", wie E. T. A. Hoffmann seinen Kater Murr apostrophiert hat, von der gemeinen Existenz in eine höhere, die li-terarische, abhebt, müssen mehr oder minder subtile, mehr oder minder geheimnisvolle Prozesse in Gang kommen, für die die Wissen-schaft den Begriff des "kreativen Moments" geprägt hat. Ihm nach-zuspüren, ist ein reizvolles Unter-fangen.

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