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Schau heim wärts,Thomas Wolfe!

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Er nahm ein Musterbuch vom Schreibtisch und blätterte; es zeigte bescheidene Grabmale aus Georgia-Marmor und Vermont-Granit. „Nein“, sagte sie ungeduldig, „an so was dachte ich nicht. Ich weiß, was ich will.“

Er sah erstaunt auf. „Und das wäre?“

„Den Engel draußen am Eingang.“ Er war betroffen. Er wollte nicht. Er biß sich die Lippen. Kein Mensch wußte, wie er an dem Engel hing. Vor den Leuten nannte er ihn seinen „Weißen Elefanten“ und verwünschte den Tag, an dem er ihn gekauft hatte. Sechs Jahre nun stand der Engel auf der Veranda, Wind und Wetter hatten ihm zugesetzt, er war verschmutzt. Aber er war aus Car-rara in Italien gekommen. Und hielt eine steinerne Lilie in der Hand. Und die andere Hand hatte er segnend hochgehoben. Und die ganze Gestalt schwebte plump auf dem Zehenballen des einen schwindsüchtigen Fußes..

Wenn ihn gerade die Wut packte, dann schimpfte Gant oft furchtbar über den Engel: „Du hast mich ins Elend gestürzt, ruiniert hast du mich, du bist der Fluch, der auf meinem schwindenden Leben lastet. Und nun willst du mich erdrücken, entsetzlicher Quälgeist, du schreckhaftes, du grausames, du unnatürliches Ungeheuer!“

Dann wieder, wenn er betrunken war, fiel er vor dem Engel auf die Knie, nannte ihn Cynthia und flehte ihn an um Liebe, um Vergebung, um seinen Segen. Und Gelächter schaute vom Stadtplatz.

„Wie steht's damit?“ fragte Elizabeth. „Wollen Sie ihn nicht verkaufen?“ „Er wird Sie eine schöne Stange Geld kosten“, sagte Gant ausweichend.

„Das macht nichts“, sagte sie bestimmt. „Ich hab's ja. Wieviel ist's?“ ', Er schwieg. Er dachte an den Platz, den der Engel einnahm. Es gab nichts, diesen Platz wieder auszufüllen, das wußte er. Wenn dieser Engel ging, würde ein erloschener Krater in seinem Herzen sein.

Jedesmal, wenn wir wieder auf offener Strecke sind, wenn keine Kreuzungen und Zubringer, keine Einordnungspfeile und Ampeln ihre verstärkte Aufmerksamkeit erfordern und Myra Champion sich entspannt im Fahrersitz zurücklehnt, läßt sie es zu, daß ich sie wegen des Engels ins Verhör nehme. „So, jetzt geht's wieder. Also, schießen Sie los.“ Dann hellt sich ihr kleines Gesicht vorübergehend auf, und mit der zarten Gestalt der energischen alten Dame geht eine seltsame Verwandlung vor sich. Der strenge Knoten aus weißblondem Greisenhaar scheint sich zur locker herabfallenden Goldmähne zu lösen, die krampfhaft das Lenkrad umklammernden Hände erheben sich zu segnend-beschwören-den Gebärden, und es würde mich nicht wundern, wenn ihr in diesem Augenblick auch noch Flügel aus den Schulterblättern wüchsen. Es sind die Momente, in denen sie sich erinnert, wie das damals war — damals, als sie, Myra Champion, den Engel fand. 26 Jahre ist das nun her. Ja, 1949. Hier, in Hendersonville. „Noch 20 Minuten“, sagt sie, „und wir sind da. Ich bin gespannt, was Sie sagen werden.“

Natürlich geht mit ihrem Haar nicht die kleinste Veränderung vor sich, keine Spur von Flügelwachstum, und auch Myras Hände, wenn man nur genau hinschaut, ruhen unverwandt auf dem Lenkrad ihres Chevrolet — es wäre ihr auch, angesichts des starken Verkehrs auf dem Great Smoky Mountain Highway, sehr zu raten. Und doch: Etwas von alledem stellt sich in der Phantasie des Zuhörers ein, wenn Myra Champion von ihrer Erstbegegnung mit dem Himmelsboten spricht: Es färbt auf sie ab. Ein Zwischending aus Bernadette und Gipfelstürmer ist sie dann, Soubirous und Mount Everest grüßen aus weiten Fernen, Erscheinung und Bewältigung, Wunderschauder und Entdeckerglück. Und dabei hatte sie nicht einmal eine Tüte Gips mit, um dem Engel, fürs Erin-

nerungsphoto, die abgebrochene Hand anzukitten: Mit einem gebrauchten Kaugummi mußte sie sich behelfen.

*

Die Autobahn von Asheville, Thomas Wolfes Geburtsort und — unter dem Namen Altamont — die Kulisse seines Romans „Schau heimwärts, Engel!“ ist dicht belebt. Nahverkehr der Weekend-Ausflügler: Fast alle Nummernschilder tragen den Zusatz „First in Freedom“; daran erkennt man, daß sie aus North Carolina kommen. Ihr Ziel sind die Jahrmärkte der Cherokee-Indianer, der Great Smoky Nationalpark, die Ghost Town auf den Anhöhen vor Maggie, oder Biltmore House: die Vanderbilt-Kopie der Renaissanceschlösser von Blois und Chambord. Wer in Sachen Literatur unterwegs ist, hat hier im Umkreis die Wahl zwischen Carl Sandburgs Alterssitz „Connemara“ und dem Grab des Short Story Writers O. Henry, dem Great Eyry Mountain bei Morgan-ton, der in Jules Vernes „Maitre du Monde“ Schauplatz allerlei unheimlicher Lichterscheinungen ist, und, alles überstrahlend, den Thomas-Wolf e-Lokalitäten: Asheville, in der Sprache der örtlichen Fremdenverkehrspropaganda „die Perle der amerikanischen Schweiz“, in der Sprache des Dichters eine „Bergwelt der Heimsuchungen“, ist ein einziges lebendes Wolfe-Museum. Jedes Straßenstück, jeder Winkel, jedes Haus in diesem Altamont sind, sofern sie die bald 50 Jahre seit Erscheinen des Buches überlebt haben, in der Realität von Asheville wiederzufinden, unschwer und deckungsgleich, und Generationen von Literaturwissenschaftlern und Biographen, von Schulklassen und Touristen haben an diesem Unternehmen mitgewirkt, die Wonnen des Erkennens und Verglei--Chens auskostend. „Old Kentucky Home“, eine dieser Stätten, die wichtigste, das „Dixieland“ des Romans, jenes Boardinghouse „fünf Minuten vom Stadtplatz“, in dem Eugen Gant alias Thomas Wolfe aufwächst und in dem seine Mutter Eliza alias Julia an Besucher von auswärts Zimmer vermietet, bis es darin bald überhaupt keinen Winkel mehr gibt, „der der Familie heilig ist“, für das sensible Kind „ein Ort des Entsetzens“, hat es nach Kriegsende sogar zum staatlich geschützten „Memorial“ gebracht.

Nur der Engel — ihn ausfindig zu

machen, wollte lange Zeit nicht gelingen. Er, der dem Buch den Namer gegeben, der jahrelang am Eingang zu Vater Wolfes Steinmetzwerkstatl am Pack Square Schildwache gehalten hat und den im Roman desser alter ego Oliver Gant schweren Herzens an die Besitzerin eines Lokales in Eagle Crescent veräußert, dei plötzlich „das beste ihrer Mädchen' wegstirbt.

* Sir |

Das Geburtshaus von Eugen Gan1 alias Thomas Wolfe: diese „warm Daseinsmitte“ in der Woodson alias Woodfin Street, heute dem stattlichen Neubau eines YMCA gewichen; Vaters Werkstatt: der „Backsteinschuppen mit der breiten Holztreppe und der marmorgepflasterter Veranda“, heute ein Bürowolkenkratzer; Mutters Pension: „diese große kalte Gruft“; die Schule auJ dem „herrlich einsamen Hügel“, wc er „unter den großen alten Bäumen wandeln“ und „frei im alten Haus herumstreifen“ konnte; die „Bibliothek am Stadtplatz“ und der Drugstore mit der „onyxglänzenden Sodafontäne“; das Negerviertel, dieses „rachitische Labyrinth baufälligei Bretterbuden, Elendskeller und Verschlage“, wo er für die Mutter aui Dienstbotensuche ging; die Straßen in denen er die Zeitungen austrug — dies alles bot dem Leser keinerlei Identifikationsprobleme, jeder Eingeweihte wußte, welches Haus, welcher Platz, welche Person gemeinl waren, und der Einheimische gab sein Wissen an den Besucher von auswärts weiter. Und wenn es in diesem Zusammenhang doch ein Problem gab, dann höchstens dies: daß die Dinge zu leicht verifizierbar, die Leute aus dem Ort zu leicht erkennbar, ihre Verhaltensweisen zu leicht entzifferbar waren, daß sich also dieser und jener kompromittiert fühlte, daß es wegen des Buches reihum Skandale gab, ja daß Thomas Wolfe beinahe acht Jahre verstreichen lassen mußte, ehe er es wagen konnte, sich wieder in der Heimat blicken zu lassen, so wütend war man dort auf ihn. Einzig der weiße Engel, der marmorne Cherub — er verweigerte sich aller präzisen Identifizierung.

Gewiß, es gab Gräber in der Umgebung der Stadt, die mit Engelsfiguren ausgestattet waren, auch in Asheville selbst gab es sie, und einiges davon mochte auch durchaus aus

Vater woiies L.aaen stammen, nur jenes Prachtexemplar mit der segnenden Hand und der Lilie wollte sich, aller noch so intensiven Suche zum Trotz, nicht finden.

Myra Champion, damals noch in den Diensten der „Pack Memorial Public Library“, in der schon der junge Thomas Wolfe seinen Lesehunger gestillt hatte, „im Fleisch und Blut seiner Lieblingshelden lebend und ihre Standarten aus der Welt der Bücher hinaus auf den grauen Plan des Alltags tragend“, ließ die Sache keine Ruhe. 1929 war „Schau, heimwärts, Engel!“ erschienen; in den folgenden zwanzig Jahren hatten nicht weniger als acht verschiedene Versionen über die Identität des Originalengels kursiert. Die einen wollten ihn auf dem Friedhof von Asheville erkannt haben, andere Spuren wiesen nach Waynesville, wieder andere nach Whittier, Leice-ster, Jupiter. Doch so oft man der Sache auf den Grund ging — und Myra Champion, nach allgemeiner Auffassung „Ashevilles outstanding authority on Thomas Wolfe“, ging ihr auf den Grund —, stellte sie sich noch jedesmal als unhaltbar heraus. Einmal stimmte es mit der Zeit nicht, dann mit dem Material oder dem Lieferanten, und hatte man glücklich eine rechte Hand sichergestellt, an deren segnender Gebärde nicht zu zweifeln war, so fehlte garantiert in der dazugehörigen linken die Lilie.

Endlich, kurz vor ihrem Ableben im Jahr 1945, gab Thomas Wolfes Mutter den entscheidenden Hinweis, der vier Jahre später Myra Champion auf die richtige Spur setzen sollte. „The Marble Man's Wife“ glaubte sich in einem der Interviews, die sie ihrer Biographin Har-den Norwood gab, erinnern zu können, der bewußte Engel sei am ehesten nach Hendersonville verkauft worden, 22 Kilometer südlich von Asheville, an einen hochgestellten, wohlhabenden Mann, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, das Grab seiner früh verstorbenen Frau mit „etwas Besonderem“ zu schmücken.

Hendersonville ist eine reizende kleine Sommerfrische; den Friedhof, „Oakdale Cemetery“ nennen ihn die Leute, finden wir nicht auf Anhieb — es ist wohl schon wieder ein paar Jahre her, daß Myra das letztemal dagewesen ist. Wie alle Friedhöfe hier, ist er zur Straße offen: kein Zaun, keine Mauer, wir können mit dem Wagen bis vors Grab fahren. Der Engel, ich sehe ihn von weitem, überragt alle anderen Monumente rundum. Seitdem ihn, vor zwei Jahren, ein Literaturstudent aus Ohio erklommen und seinen Enthusiasmus mit einem bösen Sturz und gebrochenen Rippen bezahlt hat, ganz zu schweigen von den 1500 Dollar Reparaturkosten, die der Sheriff dem in Reuetränen aufgelösten Wolfe-Fan

aufbrummen mußte, ist die Grabstätte der Mrs. Margaret E. Johnson, Ehefrau des Schuldirektors Dr. H. F. Johnson aus Brookhaven, Mississippi, 1822 bis 1905, mit einem hohen Eisenzaun eingefriedet.

Kein Engel von der hochgeistigen Sorte, nichts von Sphärenpathos und Pietätsdunst, absolut nichts Einschüchterndes, eine Erscheinung von sympathischer Diesseitigkeit, hier darf gelächelt werden. Ein Gassenjunge aus Carrara, für ein paar Lire Taschengeld ins Haus geholt und verkleidet, rasch über seine Rolle instruiert und nun den Adepten aus der Bildhauerschule Modell stehend — so kommt mir die Sache vor. Auch an meine eigenen Krippenspiele aus Kindertagen muß ich denken, jeden dritten Adventsonntag im Pfarrheim, und an die Panik, einmal bei der Generalprobe, die mich erfaßte, weil der rechte Flügel plötzlich umklappte und durch nichts in der Welt dazu zu bewegen war, die von der Regie gewünschte Stellung einzunehmen. Myra, der ich zögernd meine unbotmäßigen Assoziationen anvertraute, frömmlerische Zurechtweisung gewärtigend, lächelt vergnügt zurück: Auch für sie, so scheint es, ist der Engel von Hendersonville kein Medium metaphysischer Verzückung, sondern einfach eine Trophäe, deren sie sich freut

„Keiner tut es ihm gleich, dachte Eugen und stellte sich vor, wie seines Vaters Werk in überwucherten Friedhöfen ihn und die Zeiten überdauern würde.“

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