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Das vierte Tor

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Die Tramway fährt so schnell daran vorbei, als hätte sie ein schlechtes Gewissen, und verschwindet rot und glänzend im Dunst der Ebene. So bleibt denjenigen, die es suchen, keine andere Wahl, als beim dritten Tor schon auszusteigen und mit schnellen trotzigen Schritten die kleine Mauer entlang zu gehen, verfolgt von den neugierigen Blicken der Menschen, die vergessen haben, daß es ein viertes gibt. Nur wenige suchen es! Wohin führt das vierte Tor?-

Fragen Sie doch die Kinder mit den scheuen, klugen Gesichtern, die eben -beladen mit Reifen, Ball und Schultasche - von der letzten Plattform abgesprungen sind. Sie tragen keine Blumen in den heißen Händen und sind nicht geführt von Vater, Mutter und Großtante wie andere Kinder, die man behutsam zum erstenmal einweiht in das Mysterium des Todes! Nicht wahr - das erschüttert Sie ein wenig und Sie fragen neugierig:

„Wohin geht ihr?”

„Wir gehen spielen!”

„Spielen! Auf den Friedhof? Warum geht ihr nicht in den Stadtpark?”

„In den Stadtpark dürfen wir nicht hinein, nicht einmal außen herum dürfen wir gehen!”

„Und wenn ihr doch geht?”

„Konzentrationslager!” sagt ein kleiner Knabe ernst und gelassen und wirft seinen Ball in den strahlenden Himmel. Sie frösteln und haben plötzlich ein leises beklemmendes Gefühl in der Herzgegend, fast bereuen Sie es, gefragt zu haben! Doch ein unerklärliches Etwas zwingt Sie, die Unterhaltung fortzusetzen:

„Ja, habt ihr denn gar keine Angst vor den Toten?”

„Die Toten tun uns nichts!”

Sie wollten noch etwas fragen, aber steht nicht dort an der Ecke ein Mensch im hellgrauen Anzug und beobachtet Sie? Könnte es Ihnen nicht schaden, mit diesen Kindern hier gesehen zu werden? Sicher ist es besser, vorsichtig zu sein! Sie verabschieden sich also schnell und wenden sich um. Vielleicht gelingt es Ihnen, Ihre Herzbeklemmungen loszuwerden? ...

Auf dem jüdischen Friedhof blüht der Jasmin, strahlend weiß und gelassen und wirft Wolken von Duft in das flirrende Licht der Sonne. Er blüht restlos und hingegeben, ohne Angst, Haß und Vorbehalt, ohne die traurigen Möglichkeiten des Menschlichen. Über die Gräber wuchern Sträucher und Blattpflanzen, die niemand mehr pflegt, ranken sich rund um den Stein, beugen sich tief hernieder und zittern leicht in der Wärme des Mittags, so als wären sie sich der Berufung bewußt, Zeugen einer Trauer zu sein, die in alle Winde verweht wurde, einer unnennbar schweren erschütternden Trauer, der Trauer der Verstoßenen! Und wachsen und wachsen wild und unaufhaltsam wie das Heimweh der Emigranten in Schanghai, Chikago und Sydney, wie die letzte Hoffnung der Verschleppten, wie der letzte Seufzer der Getöteten und verbergen mitleidend die eingesunkenen Hügel. Gelassen liegen die Toten unter den zerfallenden, überwucherten Steinen. Ganz selten nur hört man das Knirschen von Schritten auf Kies, das Geräusch des Grasschneidens oder das leise Weinen Hinterbliebener.

Weit draußen, wo schon die Felder beginnen, ruhen die Toten der letzten Jahre und beweisen in ihren Geburtsund Sterbedaten, die fast niemals ein ganzes Leben zwischen sich lassen, daß das Sterben an gebrochenem Herzen ebensowenig ein Märchen ist wie die Sage von den Urnen aus Buchenwald. Ein Arbeiter geht vorbei, hat den blauen Arbeitsrock mit dem großen gelben Stern über die nackte Schulter geworfen, trägt in beiden Händen Schaufeln und im Gesicht ein kluges, gleichmütiges Lächeln. Sollten Sie ihm begegnen, so würde er vielleicht sagen: „An die

Haut kann ich ihn leider nicht heften!”, denn eigentlich ist es ja verboten, den Stern auch nur auf kurze Zeit abzulegen. Rätselhaft spielt die Sonne über dem schwarzen Marmor der zerstörten Zeremonienhallen. Sind denn die Toten hier wirklich ganz allein geblieben? -Leichter, freundlicher Wind zittert über sie hin, kleine Insekten taumeln die Sträucher entlang, fernher pfeift traurig und langgezogen eine Lokomotive! Weiße Schmetterlinge gaukeln trunken von den Feldern herüber, ein Kind schreit grell und jauchzend und verstummt wieder. Sind denn die Toten hier wirklich verlassen?

Fluten nicht vielmehr Ströme von Sehnsucht über die wogenden Wiesen auf sie zu? Sind es nicht unsichtbare Wellen brennender Liebe von jedem Punkt der Erde, stärker als Haß und Zensur, die der Wind auf diese letzte Insel einer Heimat trägt? Ist es nicht gerade dieser letzte verlorene Friedhof, der durchblutet, durchglüht und durchströmt vom Puls der Welt hier am Rande einer geistig getöteten, gefesselten Stadt zur Insel des Lebendigen wird? Ja - kommt nicht die Welt selbst im zauberischen Glanz des Mittags liebend und allumfassend über die Felder gezogen, mischt ihre Stimme in das Jauchzen der verstoßenen Kinder, ihr Blühen in den Duft des Jasmins, ihre Hoffnung in den Glanz des Frühsommers, hält Millionen zerrissener, zerstreuter Herzen in ihren mütterlichen Händen und segnet sie? Sie sagen: „Ich sehe sie nicht!” Oh - dann verstecken dort beim schiefen, hellgrauen Stein! „Habt ihr die Welt gesehen?” Sie werden dann lächein, ein wenig verlegen, ein wenig erstaunt und doch sehr gläubig, wie eben alle Kinder lächeln, und werden sagen: „Ja!” Jetzt ist das Erstaunen an Ihnen!

„Aber wieso sehe ich sie nicht?” Nun, Sie müssen wissen, die Welt ist eine richtige Frau, sie zeigt sich nur dem, der sie liebt!

Drei Jahre später blitzen im Dunkel einer windigen, wilden Aprilnacht am Rande der zitternden, erwartungsvollen Stadt die ersten Schrapnells auf und tauchen nach einem kurzen Bogen ins Dunkel zurück. „Dort ist die Front! Wo? Auf welcher Straße? An welchem Platz?” Die kleine Gruppe von Menschen auf dem hohen, flachen Dach verstummt. Alle versuchen, sich zu orientieren. Da bricht endlich einer die Stille: „Ich glaube - so ungefähr - beim vierten Tor!” ... Beim vierten Tor! Dort, wo die Welt seit langem unsichtbar und tröstend zugegen ist, dort, wo der Jasmin sehnsüchtig blühte und sehnsüchtige Kinder den Traum vom Frieden träumten, dort, wo die Tramway nicht einmal eine kleine, einfache Endstation machen wollte - ist die erste Station der Freiheit!

Aus WIENER KURIER vom I.September 1945.

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