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Den Schrei der Armen

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Wer sich als Seelsorger ernsthaft mit der Situation in den Slums -„favellas" - von Brasilien befaßt, merkt, daß dort nicht einseitig, sondern gegenseitig evangelisiert wird, daß Favellas Orte der Begegnung und Versuchung sind.

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Wer sich als Seelsorger ernsthaft mit der Situation in den Slums -„favellas" - von Brasilien befaßt, merkt, daß dort nicht einseitig, sondern gegenseitig evangelisiert wird, daß Favellas Orte der Begegnung und Versuchung sind.

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Vom 15. August bis 15. September 1991 fand in Itaici, in einem Besinnungshaus der Jesuiten in der Nähe von Säo Paulo, das Generalkapitel der Redemptoristen statt.

Eines der beeindruckendsten Ereignisse war für mich der Besuch einer „communitas inserta" in einer Favel-la von Säo Paulo. Eine „communitas inserta" ist eine Ordenskommunität, die mit und unter den Armen lebt und arbeitet. Die von uns besuchte Kommunität bestand aus zwei Patres, einem Diakon, zwei Studenten der Theologie - alles Redemptoristen -und einem Laien. In der Favella leben in unzähligen Hütten ungefähr 20.000 Menschen. Die „communitas inserta" ist tatsächlich, wie es das Wort zum Ausdruck bringt, eingefügt mitten in das Leben der Armen. Die Mitglieder leben unter ähnlichen Lebensverhältnissen; alle sechs in einem Raum, nur getrennt durch Bretterwände schlafen sie in Stockbetten. Das „Haus" ist für alle, die kommen, offen. Auch die Kirche ist nur eine Baracke, voll eingefügt in die Hütten der dort lebenden Menschen.

Was ist das Ziel? Es läßt sich mit zwei Sätzen umschreiben. „Den Armen das Evangelium bringen, sich von den Armen evangelisieren lassen." Was heißt dies konkret?

Ein erstes Anliegen ist: Auf den Schrei der Armen hören. Armut wird leicht übersehen. Man findet tausend Gründe, um sich von ihr nicht berühren zu lassen. Auf dem Hintergrund der Erfahrungen in Südamerika steht auch in den Statuten der Redemptoristen: „Die Redemptoristen dürfen den Schrei der Armen und Unterdrückten nicht überhören." Armut ist konkret. Die Armen haben Gesichter. Wer mit den Armen lebt, ihnen Tag für Tag begegnet, wird den Schrei der Armen leichter hören.

Ein zweites Anliegen ist: Sich von den Armen evangelisieren lassen. Das ist ein Imperativ, den wir Europäer kaum verstehen. Auch die Christen in Brasilien wissen, daß in den Favellas nicht nur Heilige leben. Es gibt dort viel Gewalttätigkeit, Verbrechen, Treulosigkeit, nie geschlossene und zerbrochene Ehen. Und trotzdem gibt es unter ihnen viele wertvolle Menschen; Menschen, die das Wenige, das sie haben, selbstverständlich teilen. Es gibt gelebtes Christentum, sodaß auch die dort lebenden Ordensleute sich von ihnen, den „Armen", evangelisieren lassen können. Auf alle Fälle wird jener, der sich den Nöten der Armen stellt, ein besserer Christ. Wichtig ist auch die Haltung der Demut und Ehrfurcht. Wer sich von den Armen evangelisieren lassen will, hat Achtung vor der Würde dieser Menschen. Er schaut nicht auf sie hinab.

Das dritte Anliegen ist: Den Armen das Evangelium bringen. Auch dieses Ziel wird auf dem Hintergrund der dortigen Erfahrungen interpretiert: „Das Evangelium zielt" - so heißt es auch in den Konstitutionen der Redemptoristen - „auf die Befreiung und Erlösung des ganzen Menschen hin". Ziel ist eine den ganzen Menschen umfassende Pastoral; gemeinsam mit den dort lebenden Menschen.

So gibt es am Sonntag in dem gemeinsamen Versammlungsraum fünf heilige Messen; es gibt Katechesen und Bibelgespräche. Es gibt aber auch Kurse, wo die Erwachsenen schreiben und lesen lernen können. Es gibt Hilfen, um die Wohnmöglichkeiten zu verbessern. Es gibt viele Hilfen zur Selbsthilfe, damit die Menschen, die meist vom Land kommen, sich in dem Ballungsraum von Säo Paulo, der mehr als 15 Millionen Menschen umfaßt, sich in irgendeiner Weise bewegen können. Man findet in der „Communitas inserta" Befreiungstheologie im besten Sinne des Wortes. So werden dort auch die Lieder der Befreiung und Hoffnung auf eine bessere Welt gesungen.

Ein weiteres Anliegen ist: Den Armen eine Stimme geben, für jene, die sich selbst nicht helfen können, eintreten. Diese vielen Menschen ohne richtige Wohnung und oft auch ohne Arbeit sind ein revolutionäres Potential, das die gesamte Gesellschaft zum Umsturz bringen kann. Aber wo Menschen hungern, dürsten, wohnungslos und krank sind, dort kann man nicht akademisch zwischen Religion und Politik unterscheiden. Denn Jesus sagt: „Ich war hungrig, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben..." <

Die „communitas inserta", die viele Frauen- und Männerorden in Südamerika zu leben versuchen, ist keine Romantik. Die Glaubwürdigkeit wird durch die alltäglichen harten Lebensbedingungen und die ständige Konfrontation mit den Problemen der Menschen in den Favellas getestet.

Am Anfang des Mönchtums haben sich Menschen in die menschenleere Wüste begeben: die Wüste ein Ort der Gottesbegegnung und der Versuchung. Heute begeben sich Ordensleute in die von Menschen überfüllte Wüste der Favellas: auch ein Ort der Begegnung und der Versuchung; der Begegnung mit den Menschen und mit Gott, aber auch der Versuchung, an Gott und den Menschen zu verzweifeln - oder Wege der Gewalt zu gehen, die weder Gott noch den Menschen entsprechen. Die „communitas inserta" ist ein Experiment; hoffentlich „ein heiliges Experiment".

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