6912053-1981_12_16.jpg
Digital In Arbeit

Der echte Kaffeehausmensch

Werbung
Werbung
Werbung

Wien war einst eine Stadt, in der der Kaffeehausmensch prächtig gedieh. Es gibt ihn auch heute noch. Aber so wie bei den afrikanischen Elefanten streiten auch beim Kaffeehausmenschen die Experten über die Frage, ob der Bestand auf lange Sicht zu retten, ob vielleicht sogar wieder auf eine Vermehrung der Kopfzahl zu hoffen sei.

Mit dem Kaffeehausmenschen ist es nämlich ähnlich wie mit einigen vom Aussterben bedrohten Tierarten. Es genügt nicht, einige Paare einzufangen und im Zoo oder, in unserem Fall, in einem kunstvoll-künstlich revitalisierten Cafe zur Schau zu stellen, um das Überleben einer Spezies zu sichern.

Wölfe brauchen eben ihre Wildnis, Biber ihre unregulierten Wildwässer zum Überleben. Ruiniert man ihren Lebensraum, ist es bald auch mit seinen Bewohnern aus. Auch der Kaffeehausmensch braucht ganz spezielle Lebensbedingungen - und um die steht es heute schlecht.

Manche Leute glauben, wenn sie einen Blick in gewisse vollbesetzte Wiener Kaffeehäuser werfen, der Kaffeehausmensch sei schon gerettet, halten gar die Klagen über das Verschwinden dieser einst so alltäglichen Art Für übertriebenes Lamento.

Es ist hoch an der Zeit, diesem Mißverständnis entgegenzutreten. Es beruht auf der leider sehr häufigen Verwechslung zweier Arten, die keinerlei äußere, aber auch keine anatomischen Unterschiede aufweisen und nur durch geduldige Beobachtung als der einen oder der anderen Art zugehörig identifiziert werden können.

Diese Beobachtung muß sich über Stunden erstrecken, denn auch bei ei

nem Individuum, das sich eine halbe oder ganze Stunde ohne Anzeichen von Ungeduld der Zeitungslektüre widmet, muß es sich noch nicht um eines der seltenen Exemplare des echten Kaffeehausmenschen handeln.

Es kann ja selbst nach einer, ja nach zwei Stunden noch eine hübsche junge Dame zur Tür hereinhasten und sich, einen Schwall von Entschuldigungen für ihr verspätetes Eintreffen ausstoßend, auf den vermeintlichen Kaffeehausmenschen stürzen. Wer aber das Lokal wegen eines Rendezvous aufgesucht hat, ist nun einmal nicht der gesuchte echte Kaffeehausmensch. Es handelt sich bei ihm vielmehr um einen ganz gewöhnlichen Kaffeehausbesucher.

Ausländern kann man nicht verübeln, daß sie von den diffizilen Unterschieden zwischen echten Kaffeehausmenschen und gewöhnlichen Kaffeehausbesuchern keine Ahnung haben. Umso betrüblicher ist die Tatsache,’ daß das Gefühl für diese feine Unterscheidung auch hierzulande immer seltener wird. Sogar manchem Ober ist das Gespür dafür schon abhanden gekommen.

Deshalb mögen hier einige Worte zur exakten Abgrenzung des echten Kaffeehausmenschen vom gewöhnlichen Kaffeehausbesucher am Platze sein. In den einzig und allein kompetenten, leider zusammen mit dem Kaffeehausmenschen vom Aussterben bedrohten Fachkreisen hat sich folgende Faustregel eingebürgert: Der echte Kaffeehausmensch ist kein Besucher, sondern integrierender Bestandteil des Kaffeehauses.

Der Geschäftsmann, der ein Kaffeehaus aufsucht, um dort über ein Ge-

schäft zu reden, ist nicht der echte Kaf- feehausmensch. Auch der Werbegraphiker, der hereinstürzt, um mit einem Kunden die nächste Anzeigenkampagne zu besprechen, weil das Kaffeehaus auf halbem Weg zwischen den Büros der beiden Herren liegt und sich daher als idealer Treffpunkt anbietet, ist nicht der echte Kaffeehausmensch. Aber selbst der Gast, der in das Kaffeehaus um eines dringend für sein Überleben benötigten Kaffees willen kommt, ist nicht der echte Kaffeehausmensch.

Der echte Kaffeehausmensch sucht das Kaffeehaus um seiner selbst willen auf, und er betritt es mit der Absicht, es nicht früher als unbedingt notwendig zu verlassen.

Der ausdauernd eine Zeitung nach der anderen lesende Kaffeehausgast stellt einen Grenzfall dar. Um hier die , Spreu der gewöhnlichen Kaffeehausbesucher vom Weizen des echten Kaffeehausmenschen zu sondern, müßte man ihn eindringlich befragen, was ihm wichtiger sei, die Zeitung oder das Kaffeehaus. Ich will hier nicht weiter ins philosophische Detail gehen. Die Bezie

hung zwischen Zeitung und Kaffeehaus wäre eine Dissertation wert. Mit dem echten Kaffeehausmenschen droht auch der echte Zeitungsleser auszusterben. Wer heute vorgibt, die Zeitung zu lesen, will sich meist lediglich informieren.

Wir kommen zum Kern der Sache: Kennzeichen des echten Kaffeehausmenschen ist das Bedürfnis nach Muße. Die Zahl der echten Kaffeehausmenschen in einer Gesellschaft ist der Indikator wahrer Menschlichkeit in dieser Gesellschaft, denn ohne Muße keine wahre Menschlichkeit.

Darum zählt der echte Kaffeehausmensch zum harten Kern einer besseren Welt. Zu seinen nächsten Verwandten zählen nicht die gewöhnlichen Kaffeehausbesucher, sondern die echten Heurigengeher, die echten Parkbanksitzer und die echten Spaziergänger. Man sollte sie alle unter Naturschutz stellen, einschließlich ihres Lebensraumes; der aber wäre eine Stadt, in der das Wort Muße noch oder wieder Gewicht hat.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung