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Lauter nette Leute

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Der TV-Club 2 ist das illegitime Kind von Medienzeitalter und Kaffeehaussterben. Uber die zumeist völlig wehrlose Luft (mit Ausnahme von Gewittern) dringt er auf elektronischem Wege durch alle Ritzen und in jeden Haushalt. Dies allein wäre noch kein Problem. Würden alle potentiellen Zuseher nämlich im Kaffeehaus sitzen und plaudern, keiner würde sich um den Club 2 scheren. Dem ist aber nicht so.

Es hocken nämlich alle zu Hause vor jenem Gerät, das mehr umgebracht hat als nur die Kinos. Es hocken alle um das Empfangsge-

rät und spielen Kaffeehaus. Das muß wohl so sein, denn würden sich alle Seher in die wenigen Kaffeehäuser begeben, die diesen Namen noch verdienen, dann wären diese selten gewordenen Lokale innerhalb kürzester Zeit dem Erdboden gleichgemacht, und die Leute würden erst recht wieder zu Hause herumsitzen. Man kann es also drehen und wenden, wie man will: es gibt zu wenige Kaffeehäuser und zu viele Fernsehgeräte. Und machen wir uns nichts vor: es besteht keine Aussicht, daß sich die Situation zu Gunsten ersterer demnächst verbessern könnte.

Nach diesen notwendigen und unbedingt darzulegenden Vorbemerkungen gilt es, nun zum Kern jener leidigen Angelegenheit vorzudringen, derentwillen die Geduld des Lesers überhaupt bemüht wird.

Versetzen wir uns einige Jahrzehnte zurück. Ein altes Wiener Kaffeehaus, das seinen Namen noch verdient. Eine Luft wie zum Schneiden, dem Kenner jedoch dünkt sie besser als die klarste Luft der schönsten Alpengipfel. Links von der Kasse der alte Ober, so würdig, so unnahbar und doch voll Verständnis und sehr diskret (was bedeutet heute im Zeitalter marktschreierischer Selbstanpreisung noch Diskretion!), unweit neben ihm der große Literat, rechts daneben ein noch nicht ganz so großer, dann Möchtegerns und Müßiggänger, Schwadroneure, Flaneure — seltsame Käuze allesamt. Man kannte einander, sprach, scherzte, stritt oft und versöhnte sich selten. JEs entstanden Lebensfreundschaften und ebensolche Feindschaften. So muß es wohl gewesen sein, wenn wir den Berichten jener, die noch dabeigewesen sind, trauen dürfen.

Jeder hatte seinen verrückbaren Platz, jeder seine veränderliche und doch konstante Größe. Der eine hatte stille Größe, der andere laute, je nach Temperament und Veranlagung. Und auch die Kleinen hatten ihre Größe, kleiner halt und doch respektiert. Ja, an manchen Tagen wuchsen

sie sogar über sich hinaus, wurden größer, und am nächsten Tag waren sie so klein wie immer.

Man begegnete den Freunden mit Sympathie und Feinden mit Mißachtung oder Verachtung. Es gab die kleinen Kaffeehauskarrieren, die nie zu großen in der Welt draußen wurden. Hier durften die liebenswerten Originale und Dampfplauderer das sein, was sie waren: liebenswerte Originale und Dampfplauderer eben. Mehr waren sie wirklich nicht, und mehr wollten wohl die meisten von ihnen auch nicht sein.

Jetzt aber, einige Jahrzehnte später, gibt es statt der Kaffeehäuser und ihrer schützenden Diskretion den Club 2. Dort wachsen die Kleinsten und schrumpfen die Größten. Die maximale Bilddiagonale beträgt halt nur siebzig Zentimeter oder so.

Wie wichtig sie dort alle mit einem Mal sind! Was ist nur geworden aus ihnen, den Originalen und Dampfplauderern? Aufgeblasen zu voller Bildschirmgröße — Untertitel: „Philosoph“ oder „Schriftsteller“ — gewinnen sie plötzlich eine Bedeutung, die sie gar nie hatten, die sie nicht haben und auch nie haben sollten. Sie mutieren zu Experten.

Der Club adelt seine Teilnehmer.

Sie werden zu Wichtigkeiten dank Programmintendanz und Einschaltquote. Zwerge werden zu Riesen, Riesen werden zu Zwergen. Die Schuhgröße ist immer falsch. Ihre Nichtigkeit hat das Wort. Das Apercu wird zur wissenschaftlichen These, der bedeutungslose, doch wohlformulierte Aphorismus unter Eingeweihten zum „Bildungsgut“ großer Massen. (So billig kann Bildung sein!) Der rhetorische Vernichtungskrieg zweier sonst durchaus honoriger Disputanten gegeneinander gewinnt nationale Bedeutung.

Im Kaffeehaus hätte der alte Ober (ja genau, der von vorhin) mißbilligend den Kopf geschüttelt und ein leises „Aber, meine Herren“ geflüstert. Im Club? Ha! Der Präsentator: „Das müssen Sie präzisieren.“ Und dann wird präzisiert, daß die Fetzen fliegen. Unsere Käuze und Originale sind zu allgegenwärtigen Monstern verkommen. Kein Komplex ohne Ringel, kein Einbruchsdiebstahl ohne Sluga, keine Sexualität ohne Borneman, kein Präsidentschaftswahlkampf ohne Meiss-ner-Blau. Und kein Cafe Central

ohne Marboe. Das sind die Fakten.

Lauter nette Leute, keine Frage. Man könnte sie sich alle so gut vorstellen, fünfzig Jahre früher. Der Literat (der große wohlgemerkt): „Gehn S' Ringel, wie ist das mit der Seele der Kärntner, der Steirer, der Unterstinken-brunner?“ Und der Ringel würde loslegen. Man würde zuhören, sich amüsieren. Der Sluga würde vielleicht widersprechen, der Borneman würde den Einfluß des Kaffees auf das Patriarchat -aber lassen wir das. Und wenn die Meissner-Blau kandidiert, alle würden klatschen und keiner sie wählen (naja, der Oberkellner Franz vielleicht doch — aber das ist schon wieder eine andere Geschichte).

„Und der Marboe?“ fragen alle, „was würde Marboe tun?“ Tja, der Marboe, der wäre nett und unterhaltsam, ein feiner Herr, manchmal cholerisch.

„Aber tun“, sagen sie, „was würde er tun?“

„Der Herr Marboe, der zahlt alles“, würde der Herr Oberkellner Franz die Leute aufklären. Man würde ihn dafür achten und schätzen, den Marboe. Ein feiner Herr eben. Aber der, der zahlt, hätte im Kaffeehaus von damals deshalb noch lange nicht das Sagen gehabt. Nur: heute ist nicht vor fünfzig Jahren.

Und darum kennt sie heute jeder: die Ringels und Slugas, die Bornemans und die Blaus. Zahlen läßt alles der Marboe. Darum gilt heute: das Cafe Central ist vielleicht überall, nur das Kaffeehaus ist nirgendwo.

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