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Die betrogene Generation

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Es gibt in allen Bereichen einen gewissen Gewöhnungseffekt. Außerdem sind viele Menschen nicht intelligent genug, um Gesamtsituationen und sich abzeichnende geschichtliche Vorgänge nachträglich — und schon gar nicht während ihres Ablaufes — beurteilen zu können. Ein Großteil aber aller Menschen ist grundsätzlich und von vornherein opportunistisch eingestellt, er wird stets mit den Wölfen heulen, mit dem Strom schwimmen, wird immer und überall versuchen, mit der Butterseite nach oben zu kommen, wird sich allen Richtungen, jedem wirklichen oder vermeintlichen Trend, jeder Mode anpassen.

Freilich werden bei einem allzugroßen Hick-Hack innerhalb einer Lebensspanne die eigentlich humanen — und dazu gehören vor allem auch die religiösen — Werte im Gesamtbewußtsein zugrunde gehen, werden überlieferte religiöse Gewohnheiten, die für den Durchschnittsmenschen Stütze, Trost und Mahnung waren, erlöschen und durch billigste Ersatzformen aufgefüllt werden.

Berechtigte Wandlungen und Reformen vollziehen sich ständig auf allen Gebieten fast unbemerkt, wie von selbst. Selten bedarf es größerer Eingriffe; diese aber zerstören, wenn sie nötig sind, auch im Sekundärbereich — etwa der Religion — keineswegs die Substanz. Im Gegenteil! Sie schützen, reinigen, klären diese ab. Geschieht es anders, muß es zur Identitätskrise kommen.

Kann man ernsthaft behaupten wollen, daß vorher und früher — vor zehn bis zwanzig Jahren — alles falsch gewesen sei? Kann man erwarten, daß auf dem Hintergrund der totalen Veränderung im äußeren Bereich die Menschen widerspruchslos den Innenbereich nach wie vor dann'stehenlassen? Dies derh wohl um so weniger, als manche der äußeren Änderungen deutlich zugleich vernunftswidrige Züge zeigen: so das weitgehende Verschwinden des Lateinischen zugunsten einer Unzahl von Landesliturgien im Zeitalter der offenen Grenzen, einer Massentouristik und von Millionen Fremdarbeitern!

Außerdem: Wer kann die Übergänge zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem — auch bei Ubersetzungen oder Neuinterpretationen — wirklich so genau ziehen?

Schließlich werden trotz allem die großen Linien als Gebot, Verbot oder Duldung von der offiziellen

Amtskirche gezogen. Sie ist also keineswegs primär das arme duldende Opfer, sie ist in diesem Sinne nicht die Verfolgte, eher die Verfolgende. Wenn ihr dabei oftmals einiges über den Kopf wächst, dann ist dies schlicht die Folge vorherigen Verhaltens, Folge früherer Maßnahmen. So sind anderseits viele, die heute in der Kirche Übles treiben, viele, die versagen, viele, die aufgeben, bis zu einem gewissen Grade tatsächlich die Opfer.

Es ist doch wirklich so: was früher unter Tadsündendrohungen verboten war, wird heutzutage häufig genug in Liturgie und Pastoral verlangt.

Für begründete Änderungen disziplinarer Art, die abgewogen und sparsam erfolgen, wird und muß man jederzeit Verständnis haben, vielleicht bei solcher Gelegenheit manchmal erleichtert aufatmen. Wenn aber buchstäblich alles und jedes auf den Kopf gestellt wird, vom äußeren Betrachter her gesehen kaum mehr eine Ähnlichkeit mit dem früher eifrig Verteidigten fest-

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zustellen ist, das Einstige jetzt ebenso untersagt und unterdrückt wird, wie es vorher geboten wurde, dann hört beim besten Willen und bei größter Geduld Gemütlichkeit und Verständnis auf.

Das Mittelalter kannte den Begriff der Treue, der gegenseitig von unten nach oben aber auch von oben nach unten verpflichtete. Wurde Treue vom Herrn gebrochen, dann war der Lehnsmann seinerseits jeder weiteren Verpflichtung bar. Die Amtskirche hat auch eine Verpflichtung der Treue gegenüber den Gläubigen.

Dies sollte endlich und mit allen Konsequenzen begriffen werden. Deutlich besteht ein Defizit und eine Restitutionspflicht an dieser notwendigen Treue. Das Märchen von der schnellebigen Zeit darf nicht zum fadenscheinigen Alibi einer permanenten Neuerungsstrategie werden, welche zugleich die mit den Begriffen Treue und Heimat verbundenen Inhalte radikal und restlos aus dem Bereich der Kirche verbannt. Wer noch unvoreingenommen genug ist, wer nicht dem Gewöhnungseffekt selbst anheimgefallen ist, wer noch ein wenig Augenmaß bewahrt hat, der begreift, daß das in der Überschrift genannte Wort von der betrogenen Generation keine Übertreibung oder Einseitigkeit darstellt, vielmehr nüchterne Bestandsaufnahme bedeutet. Das Zumutbare scheint lange überschritten zu sein. Es ist sicher kein Zufall, daß auch unter den ständigen Berufskritikern bisheriger kirchlicher Zustände die Zufriedenheit keineswegs zugenommen, vielmehr weiterhin abgenommen hat, die Laien als sich artikulierende Gruppe in der Kirche immer unzufriedener, die Ordensberufe immer geringer, der Priesternachwuchs immer stagnie-

render wird. Es bleibt auch nicht aus, daß unter den gegebenen Umständen die Reduzierer nach einem Bleibenden suchen, das ihnen unter der Hand immer dünner, immer weniger gewichtig, immer geringer wird, das sich schließlich in allgemeine humanitäre Phrasen aufzulösen droht. Eine betrogene Generation, und das gilt vor allem für die im kirchlichen Dienst Stehenden, fordert Rechenschaft! Die Einbußen an Einfluß in der Öffentlichkeit, der rapide Rückgang an Kirchgängern, der Verlust an Glaubwürdigkeit, der radikale Vertrauensschwund erhalten erst unter Berücksichtigung der Tatsachen ihren richtigen Stellenwert.

Die vermessentliche, allzu rasche Berufung für die vielen Änderungen und Neuerungen, die inzwischen

Legion geworden sind, auf den Heiligen Geist, hat bei nüchterner Betrachtung schon deshalb wenig Gewicht und Überzeugngskraft, weil eine durch Jahrhunderte gehende kirchliche Tradition ganz sicher auf die Wahrheit des Geistes größeren Anspruch erheben darf. Ein geschichtlich wohl bisher einmaliger und unerhörter Vorgang: Treue zur Kirche muß nun — anders als im sogenannten Dritten Reich — nicht nur mit wachsender doppelter äußerer Diffamierung, einer im nichtkirchlichen (und nichtchristlichen) Bereich und einer in der, soweit noch vorhanden, sehr welthaft gewordenen Kirchengesellschaft, sondern obendrein auch noch mit einer kaum mehr zu vermeidenden Emigration nach innen bezahlt werden. Und das ist schlimm.

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