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Die Privatsphäre als Freigehege

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Die Unberechenbarkeit des russischen Nationalcharakters ist in den klassischen literarischen Zeugnissen und durch Beispiele aus der Geschichte genügend belegt: Sünder werden da zu Büßern, Verbrecher zu Märtyrern, Lebemänner zu Asketen.

Auch dem heutigen Russen ist noch vieles von den typischen Eigenschaften der Figuren aus den Romanen Dostojewskis oder Turgenjews, Tolstois oder Gontscharows geblieben. Allerdings hat die Sowjetmacht alle zur Verfügung stehenden Mittel, vor allem einen gigantischen Terrorapparat, dafür eingesetzt, um das wandelbare und zu extremen Gefühlsausschlägen neigende Wesen ihrer Untertanen im Dienste der Industrialisierung einzudämmen und umzuwandeln.

Daß dies nach sechzig Jahren immer noch nicht zur vollsten Zufriedenheit der Machthaber gelungen ist, beweisen die endlosen Aufrufe zu mehr Disziplin, zu besserer Qualität in der Produktion, zur Hebung der Arbeitsproduktivität und zu nimmermüder Wachsamkeit auch vor den inneren Feinden: Verschwendung der staatlichen Mittel, Schlampigkeit und Vergeudung, geringes persönliches Engagement am Arbeitsplatz und - Diebstahl. Tatsächlich nehmen auch heute noch viele Sowjetbürger die Tatsache, daß es sich bei den Produktionsmitteln um Gemeinschaftsgut handelt, zu wörtlich: Die öffentlichen Medien verbrauchen viel Energie im Kampf gegen die Entwendung von Gütern im Arbeitsprozeß.

Die Sowjetmacht ist ein Produkt russischer Geschichte und es wäre falsch, eine scharfe Trennungslinie zwischen russischem Menschen und

„Die Parteiherrschaft hat den Nationalcharakter nur in bestimmte Bahnen gelenkt...“

Sowjetbürger zu ziehen. Die Parteiherrschaft hat den Nationalcharakter nur in bestimmte Bahnen gelenkt, die Entwicklung bestimmter, nicht unbedingt der besten Eigenschaften gefördert. Eine harte Geschichte geht nicht spurlos an einem großen Volk vorbei: Das Leben in Gefängnissen und Lagern, unbeschreibliche Lebensbedingungen auf dem Lande, permanente Furcht vor den Sicherheitsorganen und seinen Spitzeln im engsten Kreis, bis zur Denunzierung der Eltern durch die eigenen Kinder.

Die Geschichte nach der Revolution bedeutet für die Russen wie für die anderen Völker in diesem Riesenreich einen ständigen Kampf ums Uberleben auf niedrigstem Existenzniveau. Was dem einzelnen verbleibt ist nicht der individuelle oder kollektive Protest, der nur zu Repressionen führt, sondern Verstellung, Hang zu Betrug, Heuchelei, Reserviertheit und Verschlossenheit, Schmeichelei und Liebedienerei. Die harte Alternative: entweder Anpassung oder Untergang, hat die niedrigsten Instinkte geweckt: Doppelzüngigkeit, Verleugnung der eigenen Uberzeugung, Verlust von Charakterfestigkeit und Verläßlichkeit, ja Selbsttäuschung.

Es gab Leute in meinem Bekanntenkreis, die, besonders unter dem Einfluß alkoholischer Getränke, ihrem Unmut über Partei und Regierung dann freien Lauf ließen, wenn sie sich im kleinen Kreis ihrer Familie befanden und sich vor dem wachen Auge des großen Bruders sicher wußten. Die aber dennoch am nächsten Tag an Versammlungen und beim üblichen Politunterricht die letzten Parteiresolutionen begeistert guthießen.

Ein totalitärer Staat interessiert sich freilich auch für jene Atmosphäre, die dem einzelnen als Privatleben bleibt: Familie und Heim. Wenn es in

den letzten Jahren und Jahrzehnten eine Wendung zum Besseren gegeben hat, dann hat sie sich in der intimen Sphäre des Sowjetbürgers vollzogen. Hier kann er sein, wie er wirklich ist, zumindest ohne die tägliche Furcht, sein wahres Gesicht zu zeigen.

Gastlichkeit ist freilich eine Erscheinung, die vom Sowjetbürger besonders hochgehalten wird. Ich konnte mich immer nur wundern über die Güte und Menge der schmackhaften Dinge, die bei solchen Anlässen aufgetischt werden. Das kärgliche Angebot in den Lebensmittel- und Fleischgeschäften scheint dem zu widersprechen. Allein der Moskauer entwickelt eine besondere Gabe, den Ort aufzuspüren, wo etwas Brauchbares angeboten wird.

Der Moskauer ist ständig mit dem Awoska, dem Netz für alle Fälle, bewaffnet, um zugreifen zu können. Die Jagd nach Lebensmitteln schlägt manchmal eigentümliche Kapriolen: Menschen schließen sich einer Warteschlange an, ohne zu wissen, was verkauft wird. Wo eine otscheredj (Schlange), da muß es auch was Gutes geben, lautet die Logik des ständig benachteiligten Konsumenten.

Ein Großteil derartiger Geschäfte wickelt sich überdies entweder unter dem Ladentisch oder beim Hinterausgang des Geschäftes ab. „Blat“, Beziehung, ist alles. Verkäuferinnen behalten ein seltenes Stück für einen Bekannten auf, der mit Bakschisch nachhilft, oder sich anderwärts revanchiert. Schließlich gleichen Betriebe hin und wieder aus, was es in

den staatlichen Geschäften nicht gibt, die Kantine ersetzt das Kaufhaus.

Die Kunst der Sowjetfrau, aus kärglichen Mitteln etwas Schmackhaftes zu zaubern, ist unerschöpflich. Uberhaupt sind die Frauen von der Gesellschaft besonders benachteiligt: Sie sind zur Arbeit verpflichtet, sie haben für den Haushalt zu sorgen,

„Die privaten Parties entschädigen den Sowjetbürger für die Mühe des Alltags.“

auf die Kinder aufzupassen. Kinderkrippen und -gärten reichen beileibe nicht aus. Und Erleichterungen bei der Hausarbeit durch moderne Geräte fehlen fast vollständig. So haben sowjetische Soziologen errechnet, daß die Sowjetfrau im Durchschnitt 88 Stunden im Arbeitsprozeß steht, während es der Mann kaum auf 55 Stunden bringt.

Die privaten Zusammenkünfte sind etwas vom Bezauberndsten im Leben des Sowjetbürgers. Es wird

einfach improvisiert: Tische und Stühle zusammengeschoben, ein Sofa herangerückt, das sonst als Schlafstelle dient. Diese Parties entschädigen den Sowjetbürger für die Mühe des Alltags. Sie bedeuten Abwechslung und Durchbruch der hedonistischen Seite des russischen Charakters. Ein guter, zumindest ein harter Tropfen beschleunigt das Zustandekommen von Gesprächen Und Diskussionen, die ob ihrer Offenheit beim Außenstehenden Erstaunen wecken.

Die Russen lieben es, gute Ratschläge zu erteilen. Gefragt oder ungefragt erhält jeder Gast ein Rezeptchen gegen vermeintliche oder wirkliche Krankheiten, gegen sonstige Schwierigkeiten des Alltags mit auf den Weg. Unter den medizinischen Heilmitteln spielt Knoblauch eine wichtige Rolle, nicht immer zum Vorteil für die Geruchsnerven.

Als ich mich einmal über die vielen, einander widersprechenden Ratschläge in allen Lebenslagen lustig machte, entgegnete mir ein Schlagfertiger: „Was willst du, wir leben eben im Lande der Räte (Sowjets)“.

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