6919820-1981_40_14.jpg
Digital In Arbeit

Die Torheit der Liebe

Werbung
Werbung
Werbung

Die durch den Gekreuzigten und Auferstandenen neugewonnene Beziehung zu dem „gnädigen Gott" ist nicht nur die Schlüsselerfahrung Martin Luthers, sondern eine evangelische Grunderkenntnis. Sie hat vor 450 Jahren die Reformation ausgelöst.

Damals war das Gottesbild überdeckt von der mittelalterlichen Vorstellung, daß Gott ein ewiger Richter ist. Ein Christ müßte für das Heil seiner Seele Vorsorgen. Die Heüsanstalt Kirche hat dem Volk eine Vielzahl von guten Werken angeboten, die man in das große und kleine „Seelgerät" eingeteilt hat.

Dieses war ein Gefüge von Vi-gilien, Ämtern. Seelenmessen imd Placebos (d. s. Grabumgänge), die sich für einen Verstorbenen zwei bis drei Monate hinziehen konnten und ein Vermögen kosteten. In zahlreichen Beschwerden der ob-der-ennsischen Stände an den Landesherrn wird, wie Pfarrer Eichmeyr berichtet, Klage geführt, daß durch das aufgezwungene Seelgerät ganze Bauernhöfe zugnmde gerichtet würden.

Es war die vorreformatorische Zeit keineswegs von einer Ermattung im kirchlichen Sinn befallen, vielmehr kann man durchaus von einer Blütezeit katholischen Lebens sprechen. Daß aber in un-serm Land ob der Enns die evan

gelische Predigt so schnell Eingang fand und eine so befreiende Wirkung hatte, lag an dem Zeugnis, das sich auf Paulus berufen kann.

Es ist deshalb ein erstaunliches Phänomen, daß diesen evangelischen Glauben auch eine generationenlange Verfolgung der Habsburger Landesherren nicht hat auslöschen können. Jene Christen kannten das „Wort vom Kreuz" und identifizierten sich mit der Kraft des leidenden Herrn und empfingen gerade so den

Glauben, der sich nicht manipulieren ließ.

Vielen Zeitgenossen ist es geradezu unverständlich, daß dieser „Unsinn" Menschen motiviert hat, ihre Heimat zu verlassen - oft unter dem gräßlichen Befehl, die Kinder zurücklassen zu müssen. Es muß uns nachdenklich stimmen, werm wir beobachten, daß zahlreiche evangelische Christen überhaupt keine Beziehung zu diesen Opfern aufbringen können, geschweige denn in einer ähnlichen Situation (die morgen schon sein könnte) bereit zu sein, den Glauben festzuhalten.

Aus diesen Überlegungen kann rückgeschlossen werden, daß sie die Weisheit Gottes im Ereignis des Kreuzes bislang nicht erkannt haben und diesen Unsinn nicht glauben wollen oder können.

Die Gemeinden in Korinth wurden von Paulus in ihrem geistlichen Höhenflug auf die Realität des Gekreuzigten rückverwiesen. Wie wichtig diese Rückkoppelung in unsern Tagen ist, ergibt sich aus folgenden Einsichten:

Soziale Spannungen und Ungerechtigkeiten können im gesellschaftlichen Kontext nur verändert werden, wenn das Bekenntnis zur Torheit der Liebe unter uns wächst und die Selbstsucht überwindet. Als Christen im Wohlstand haben wir die „fetten Jahre" fast schon versäumt, um mit den Völkern in Armut und Leiden ernsthaft zu „teilen".

Der Vorschlag, zwei Prozent des Sozialeinkommens an die „Hungernden" weiterzugeben, ist eine unerreichte Marke geblieben.

Und nicht zuletzt müssen wir imsere konfessionelle Zerspal-tenheit beklagen, weil wir nicht mutig genug bis zu dem leidenden und gekreuzigten Heiland zurückgehen, in dem wir einig sein könnten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung