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Die Welt im Detail verändert

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Und noch ein Erlebnis war für ihn entscheidend: 1968 ging er im Wintersturm bei Amsterdam am Meer spazieren. Strandgut lag herum, der Wind hatte darüber Sandanwehungen aufgeschüttet, stellenweise Eisschichten drüber-gezogen. Eine Szene in den Boden gekeilter Schollen, die an einem Ende abbrechen, eine Welt der schiefen Ebenen. Dazu die Vorstellung des gebeugten Gegenden-Wind-Gehens ... Solche Eindrücke vergißt man nicht. In der Folgezeit entstanden seine verzerrten Objekte, die Wewerka weltbekannt gemacht haben.

Betrachtet man sein bisher entstandenes Oeuvre, so kann man sechs verschiedene Gruppen von Arbeiten herauskristallisieren, die nach physikalischen Gesetzmäßigkeiten gestaltet sind:

• Nach seinem „Urerlebnis“ mit dem Stab im Wasser sägte er Stühle an, teilte sie, stellte sie gegen einen Spiegel, in Mauerecken, studierte die Verzerrungen der Perspektive und baute diese Perspektive nach.

• Er zerschnitt Gegenstände in der Mitte, fügte die beiden Seiten geschrumpft wieder neu zusammen.

• Er versah Gegenstände mit mehreren Reißverschlüssen, so daß die einzelnen Teile austauschbar wurden.

• Er veränderte Gegenstände durch verschiedene Scharnieren, ohne die Gesamtform zu zerstören.

• Er verzerrte Gegenstände, indem er eine oder mehrere der konstruktiven Elemente veränderte: Breite, Höhe, Tiefe, Proportion, Winkelung, Perspektive.

• Er entwarf Gegenstände in weichen Materialien, zum Beispiel Stühle aus Gummi, die sich immer wieder verändern können.

Wewerka bearbeitete eigentlich fast nur Gegenstände des Alltags, vornehmlich Stühle. Erst allmählich weitete er seinen Themenbereich aus: Menschen, das heißt Gesichter, Hände, Rümpfe wurden perspektivisch oder nach anderen „Verzerrungsgesetzen“ behandelt, nahmen selbst ein wenig vom Charakter architektonischer Monumente an. Der

Weg zur Vedutenzeichnung war frei. Berühmte Bauten wurden in einer eigenartig ironischen, respektlosen Art verändert, Fassaden gebrochen oder verbogen, das Lot verschoben, als ob diese Objekte gegen einen Sturm ankämpfen müßten. Wulf Herzogenrath berichtet von Wewerka, daß es ihm stets Spaß gemacht habe, Leute auf der Straße in ihrem Gang nachzuahmen, sich die Veränderungen genau einzuprägen. Diesem Wunsch, die Welt im Detail zu verändern, spielerisch aufzulösen und neu zu bauen, ist er bis heute treu geblieben.

Allerdings ist bei Wewerka dieser Wille zur Veränderung mit keiner politischen oder weltverbessernden Idee verbunden: Er will nicht Aufklärer sein, er glaubt bloß an die Wirkung von Verunsicherungen, die er durch seine Manipulation des Details erreicht: „Gesellschaftspolitik?“ fragte er belustigt, „ich bin gegen Politik, weil gegen die Karriere-macherei! Und Kunst, wie sie ein Beuys oder Vostell treiben, ist wie schlechter Journalismus. Ich bin gegen den Schwindel!“

Für Wien, das heißt für die Ausstellung in der Galerie nächst Sankt Stephan, hat er alle Zeichnungen hier an Ort und Stelle produziert. „Im Atelier bei Professor Oswald Oberhuber ... ! Hier geht's so gut. Ich kenne die Stadt, ich mag ihr Fluidum, das alte Pflaster, die Winkel... ich hab' in Wien schon meine ersten Erdarchitekturen vor mehr als zehn Jahren ausgedacht. Schließlich war auch meine Großmutter Wienerin!“

Immer mehr häufen sich für Wewerka die Aufträge: Für die Galerie „Der Spiegel“ wurde soeben eine Mappe „Die sieben Weltwunder“ fertig, für Paris entsteht ein Portfolio mit zwölf Prominentenporträts (Barrault, Tati, Jouvet, Pompidou, Simone de Beauvoir, Sartre, Filliou und andere), die „neuproportioniert“ werden, für den Basler Kunstmarkt Ölgemälde auf Sperrholzplatten, übrigens die ersten, die Wewerka versucht, ferner für das Essener Folkwang-Museum, das von der Krupp-Stiftung für 200.000 D-Mark eine Videotape-Anlage geschenkt bekam, ein Film „en detail“, der Wewerka zugleich auch als Vorstudie zu szenischen Arbeiten dienen soll. W. C. Fields oder Keaton sind ihm dabei die Vorbilder. Und schließlich will er „konventionelle Plastiken“ versuchen: so einen „Herodes-Stuhl“ in weißem Marmor — das Objekt wird demnächst in Wien begonnen — und für die Galerie „Spiegel“ zehn Marmorsäulen; „Objekte, die das Versinken antiker Ruinen, ihr Zerfall und Einsinken darstellen sollen.“

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