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Ein Schritt zuviel -zwei Schritte zuwenig

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„Freundschaft zwischen den Völkern Österreichs und der DDR“ - so prangte es groß in allen Blättern, die Anfang April auf dem Ost-Berliner Flughafen Schönefeld in den Zeitungskiosken aufgelegt waren. Gerade wurde Bundeskanzler Kreisky mit ebenso großem Zeremoniell wie bei seiner Ankunft von den Gastgebern verabschiedet. Tags zuvor hatte der österreichische Regierungschef bei der riesenhaft aufgezogenen Pressekonferenz jeder Bauernfängerei mit gleichen Waffen, eben „Bauernschlauheit“, widerstanden. Ein Glück, daß dieser und kein anderer Vertreter des Westens als erster nichtkommunistischer Regierungschef die DDR besuchte. Den einen Schritt zuviel ging er in Ost-Berlin jedenfalls nicht mit. Trotz aller wirtschaftlichen und bescheideneren kulturpolitischen Ergebnissen endete Kreiskys Besuch für die Gastgeber mit einem Fiasko.

Zwischen beharrlicher Suche nach nationaler wie internationaler Aufwertung einerseits und einer Lockerung der ideologischen Bandagen - welche allein diese Aufwertung krampflos ermöglichen würde - anderseits, schwankt die DDR wie ein Schiff mit zwei Antrieben in der immer offener werdenden See. Wenige Tage vor dem

ins Maßlose aufgeblähten 1. Mai, mitten im Jubeljahr des dreißigjährigen Bestehens der DDR und kurz vor Breschnews Besuch in Bonn wurde dieses Dilemma der Ost-Berliner Führung besonders augenfällig. Dafür nur zwei Beispiele: Im Zug von Rostock nach Berlin erklärte ein Mitreisender den Widerspruch zwischen dem Verschleiß gigantischer Menschenmassen - fast 100.000 werden es bald in den drei Trabantenstädten zwischen Rostock und Warnemünde sein - und der anhaltenden Weigerung, auch persönliche Initiativen zu fördern und damit Menschen wie Material einzusparen. Sein Fazit: Lob und Ehre der Partei verlangen den einen ideologischen Schritt zuviel, auch wenn er immer zwei ökonomische Schritte zurück bedeutet.

Das andere Beispiel: Musterhaft, geradezu beängstigend brav maschieren sie aus Kindergärten und Schulen, werden sie in Sport, Musik und Technik gefordert, die Kinder und Jugendlichen in der DDR. Dieser Staat gibt sich freigiebig und stärkt scheinbar das Selbstbewußtsein seiner jungen Leute. Derselbe Staat sieht aber offenbar machtlos zu, wie entwurzelte Jugendliche die Bars der Interhotels, eigentlich in erster Linie devisenträchtigen Ausländern vorbehalten, mit Beschlag belegen und terrorisieren.

Ein Schritt zuviel - zwei Schritte zuwenig. Das gilt auch von der Wirtschaftsmoral. Ständig wird sie durch Parolen, Selbstverpflichtungen und journalistische Propagierung von vorfristigen Planerfüllungen angeheizt. Bereits Wochen vor dem hohen Feiertag des 1. Mai veröffentlichten sämtliche Zeitungen der DDR groß aufgemacht die nicht weniger als 56 Leitsätze des Zentralkomitees für dieses Fest. Von den üblichen Attacken auf „Rassisten und Imperialisten“ sowie der pflichtgemäßen Verneigung vor der Sowjetunion abgesehen, zielten diese alle auf höhere Effektivität der Wirtschaft und stärkere Wachsamkeit an den Grenzen. Der eine propagandistische Schritt zuviel wird auch in Zukunft die zwei Schritte wirtschaftlicher Effektivität, welche fehlen, nicht ausgleichen. Jedermann weiß es und richtet seinen Schongang darauf ein.

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