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Ein „tolles" Debüt
Es war in den ersten Nachkriegsjahren, ich muß zwölf oder dreizehn gewesen sein; die „Katholische Jugend" hatte mich zu einem Ferienlager im Pfälzerwald abkommandiert. Meine Familie lebte damals in einer elend zerbombten Kleinstadt an der Grenze zum Saarland, wo sich an der Wende des 17. zum 18. Jahrhundert die aus dem Tiroler Oberland stammenden väterlichen Vorfahren angesiedelt hatten. Nun also drei Wochen Tapetenwechsel - eine Sensation sondergleichen zu einer Zeit, da das Wort Urlaubsreise noch ein Fremdwort war.
Schon als Kind war ich ein Eigenbrötler, zog das Alleinsein mit den geliebten Büchern der lärmenden Gesellschaft der Klassenkameraden vor. Aber ein solches Offert ließ sich natürlich nicht ausschlagen: Die Exotik des verheißenen Zeltlagers beflügelte meine Phantasie, und auch die Aussicht auf kräftig-reichliche Kost war in jenen Hungerjahren nicht zu verachten. Stubenhocker, der ich war, ging mir nur der exzessiv sportliche Charakter des Unternehmens auf die Nerven: Andauernd mußte man zu Waldläufen antreten, Bäume hinaufklettern, über Lagerfeuer springen und „Kein schöner Land" singen; hätte uns nicht der Lagerleiter am letzten Tag dazu angehalten, über die Erlebnisse dieser drei Wochen einen Bericht abzufassen, wäre ich wohl leer ausgegangen.
Nun aber war ich in meinem Element: Während sich die andern mißmutig ihre paar holprigen Sätze abquälten, zog ich mich in Hochstimmung an einen verborgenen Platz zurück: formulierte und pointierte, daß es eine Lust war, und so endeten jene Sommerwochen, denen ich ansonsten so wenig Genuß hatte abgewinnen können, auch für mich mit einem Erfolgserlebnis. Jeder gab seinen Bericht ab, dann wurden die Rucksäcke gepackt, und ab ging's nach Haus.
Wochen verstrichen, das Ferienlager im Pfälzerwald hatte längst aufgehört, mich zu beschäftigen. Da schlug ich eines Morgens die Zeitung auf, die unsere Familie im Abonnement bezog, und was las ich mitten auf der Lokalseite der „Rheinpfalz"? Meinen Bericht! Wort für Wort, unverändert, ungekürzt. Die erste Veröffentlichung! Und darunter mein Name: „Schüler Dietmar Grieser".
Noch heute gerate ich ins Schwitzen, wenn ich meine damaligen Empfindungen wiederzugeben versuche: Sie schwankten zwischen Stolz und Entsetzen. Jawohl: auch Entsetzen! Entsetzen darüber, daß mir nun die ganze Stadt über die Schulter schaute, daß Zehntausende, die's doch gar nichts anging, von meinen Erlebnissen wußten, daß ich vor aller Augen meine Unschuld verloren hatte...
Heute, wo ich auf so viele Bücher zurückblicke, wo ich meine unzähligen Veröffentlichungen kaum noch überfliege und wo ich gewohnt bin, meinen Namen auf Veranstaltungsplakaten und in Buchhandlungsauslagen zu lesen, fällt es mir schwer, jene Panik zu begreifen, die den Zwölfjährigen erfaßte, wie ich reagiert habe: Meine Familie durfte unter keinen Umständen davon erfahren, das Zeitungsblatt mußte verschwinden! Nicht auszudenken, wie meine hochseriösen Eltern eine solche Schande geahndet, wie meine beiden älteren Brüder eine solche Wichtigtuerei verhöhnt hätten! Da half kein Suchen, kein Reklamieren: An jenem Tag gab's bei Griesers keine „Rheinpfalz" , ich hatte sie radikal aus dem Verkehr gezogen...
Übrigens habe ich mir vierzig Jahre später unter größten Mühen eine Kopie jener Zeitungsseite beschafft. Nun, in einer nostalgischsentimentalen Anwandlung dessen, der mittlerweile das Schreiben zum Beruf erwählt und es darin auch zu einigem Erfolg gebracht hatte, wollte ich mich am Nachvollzug jener Premiere delektieren und überprüfen, mit welcher Wortgewalt, welchen Sprachschönheiten, welch kühnem IGedankenflug ich damals die Schwelle zur Publizität überschritten hatte.
Das Ergebnis fiel kläglich aus: Statt des schlagzeilengekrönten Riesenartikels (an den ich mich zu erinnern glaubte) eine mickerige 15-Zeilen-Notiz, statt des poesiedurchtränkten Meisterwerks ein kümmerlicher Schulaufsatz, für den mir mein Deutschlehrer höchstens ein „Ausreichend" gegeben hätte.
Wieder also - wie schon vor vier Jahrzehnten - mußte ich das ominöse Zeitungsblatt verschwinden lassen, konnte vor niemandem mit meinem „glanzvollen" Debüt prunken. Eines aber habe ich daraus gelernt: mit wieviel Vorsicht an Kindheitserinnerungen heranzugehen ist. Mit dem Abstand der Jahre und Jahrzehnte neigt der Mensch zu Übertreibung und Verklärung. Nur wir Schriftsteller, die wir von unserer Kindheit zehren, profitieren davon. Es ist unser größtes Kapital.
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