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Eine Chance wurde vertan

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Mit den Gemeinderatswahlen am 8. März wurde in Kolumbien das Verpassen einer historischen Chance deutlich: Der M-19, vor mehr als zwei Jahren aus dem Untergrund in die Legalität gewechselt, hat seinen Sozialrevolutionären Elan und damit seine bisher große Wählerschaft gegen einige Happen etablierter Macht getauscht.

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Mit den Gemeinderatswahlen am 8. März wurde in Kolumbien das Verpassen einer historischen Chance deutlich: Der M-19, vor mehr als zwei Jahren aus dem Untergrund in die Legalität gewechselt, hat seinen Sozialrevolutionären Elan und damit seine bisher große Wählerschaft gegen einige Happen etablierter Macht getauscht.

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Kolumbien, dekadenlang von den beiden Großparteien der Liberalen und der Konservativen administriert, hat in den vergangenen beiden Jahren im Umkreis einer verfassunggebenden Versammlung in rascher Folge Wahlen durchgeführt, die dem M-19 durchwegs Erfolge gebracht haben. Bei den jetzigen Gemeinderatswahlen, die wegen der Einführung von kontrollierenden Basisgruppenvertretem (edi-les) zusätzlich zu den zu wählenden Gemeinderäten ungemein kompliziert waren, was jedoch die Bereitschaft geschwunden, dem M-19 in seiner jetzigen Form Stimmen zu geben.

Im Jahr 1990 lag die Zerschlagung von Kolumbiens versteinertem Zweiparteiensystem durch den M-19 noch in Reichweite. Heute ist davon wenig zu merken. Was ist geschehen?

Am Anfangdes M-19 steht die populistische Bewegung des Ex-Diktators Rojas Pinilla, die am 19. April 1970 die Präsidentschaftswahlen gewonnen haben dürfte - was Kolumbiens Establishment mit gefälschten Wahlergebnissen negierte. Enttäuschte Anhänger, eine Mischung aus Populisten, Marxisten, Trotzkisten und Nationalkatholiken, gingen daraufhin in den Untergrund. Die kommende Stadt-Guerilla nannte sich nach dem Datum der verfälschten Wahlen M-19 (Bewegung 19. April). Begonnen wurde mit Bubenstreichen wie dem Diebstahl des Schwertes der Statue von Simon Bolivar, des Befreiers von Südamerika. Es folgten Hood'sche Überfälle, deren Beute an die Slumbewohner verteilt wurde.

Ab 1980 kam es zu bewaffneten Zusammenstößen mit den Ordnungskräften. Bei der Besetzung der dominikanischen Botschaft in Bogota 1980 war auch der österreichische Botschafter unter den Gefangenen.

Die achtziger Jahre brachten nicht nur Terroranschläge des M-19, sondern regelrecht Aufstands versuche. So wurde 1985 im Stadtzentrum von Bogota der Oberste Gerichtshof besetzt - Panzer nahmen das Gebäude, es endete in einer Flammenhölle mit zahlreichen (auch unbeteiligten) Toten. Trotzdem gab es vor zwei Jahren überraschend eine Amnestie und die Legalisierung der Rebellen.

Die Ex-Guerilleros nannten sich jetzt Alianza Democratica M-19, abgekürzt AD-M-19, und traten als politische Reformpartei auf. Ihre Vertreter erreichten beim libelaren Jung-. Präsidenten Cesar Gaviria viel Einfluß und das Einsetzen einer verfassunggebenden Nationalversammlung, bei der zahlreiche M-19-Kandidaten mitdiskutierten.

Inzwischen hatte jedoch der deutschstämmige Antonio Navarro Wolff die Führung der Bewegung übernommen. Zerfressen von persönlichem Ehrgeiz, opferte er viele revolutionäre Inhalte der nationalkatholischen Bewegung, um selber zu reüssieren. Zum Beispiel setzte er Mario Laserna (er vertrat Kolumbien als Botschafter in Österreich), einen der konservativsten Oligarchien Kolumbiens, als M-19-Senator durch; ebenso ficht Pedro Bonst im Senat für den M-19, der für die Santo-Domingo-Gruppe, Kolumbiens aggressivstes Finanzkapital, eintritt.

Kolumbiens Bürger haben 1990/91 massiv für den M-19 gestimmt und ihn zur dritten Kraft des Landes aufgewertet.

Inzwischen gibt es kräftige Desertion. Bei den Parlamentswahlen im Oktober schrumpfte der M-19 auf neun Prozent. Und bei den Gemeinderatswahlen ging es um Sein oder" Nichtsein einer alternativen Bewegung, der Wolffs persönlicher Ehrgeiz den Garaus zu machen droht.

Und das just zu einer Zeit, in der Kolumbien dringend einer engagierten Alternative bedarf, weil die Wirt-schaftsreform des Jungteams um Präsident Gaviria zwar gute gesamtwirtschaftliche Daten liefert, aber über die Masse des unteren Mittelstandes und der Armen einfach hinwegrollt; weil ganze Stadtviertel, ja ganze Orte wie die Ölstadt Barranca Bermeja zum Schauplatz unkontrollierbarerGewalt werden; weil - um mit den vorherrschenden Bildern in den derzeitigen TV-Lokalnachrichten Kolumbiens zu sprechen - in den Särgen, die täglich zu Grabe getragen werden, nicht nur wie bisher Narcos, Guerilleros, Soldaten, Polizisten und Vertreter des öffentlichen Lebens liegen, sondern immer häufiger Unbeteiligte, Machtlose, Frauen und Kinder.

Angesichts solcher Probleme fragen Bogotas Leitartikler mit bitterer Ironie, ob die vielen Terroranschläge, Attentate, Entführungen, Banküberfälle und Guerillakämpfe des M-19 während der Jahre 1980 bis 1989 zu nichts anderem gut waren, als dem Aufsteiger Antonio Navarro Wolff Eintritt zu den Cocktail-Parties des Oligarchen Mario Laserna zu verschaffen.

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