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Eine Generation zieht Resiimee

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Im Sommer 1967, kurz nach dem 2. Juni, dem Tag der ErschieBung des Studenten Ohnesorg durch den Polizisten Kurras in Berlin, warf Franz Josef Degenhardt mit dem Protestlied „Da habt ihr es, das Argument der StraBe. Sagt bloB jetzt nicht: Das haben wir nicht gewollt.” dem Establishment Beugung des Rechtsstaats vor. Seither ist mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen, und die Reizschwelle fiir Emporung iiber Gewalt enorm gestiegen.

Ein Kundgebungstoter stellt keine Weichen mehr, gar zu etwas wie dem Mai 68. Ein Dutzend neuer Kriege, vervielfachter Welt-hunger und geduldete, ja gelenkte Massenver-armung, sogar im EG-Raum, lassen die Sieger des Kalten Krieges kalter als viel kleinere Storfalle der holden Siebziger die Kalten Krieger von damals.

Der sogenannte reale Sozialismus, der im selben Jahr im „goldenen” Prag so spat und glucklos das „menschliche Antlitz” probte, hat ebenso wie der sogenannte demokratische a la Brandt/Palme/Kreisky, der im Westen den Nach-Mai pragte, inzwischen gar keines mehr, ist nicht einmal „so genannt”.

Bei fast erreichter Vollbeschaftigung erregten regionale Arbeitslosenquoten von drei Prozent schon Proteste und anfangs auch Abhilfe, wo man heute iiber dreifache Werte hinwegsieht, weil zweistellige Anteile langst fiir Abhartung sorgten.

„Randgruppenstrategien” bffneten Seitentii-ren, wo das soziale oder psychische Wohl-fahrtsnetz noch zu grob war, „kategoriale Pastoral” zeigte auch standhaften Desperados noch Perspektiven, wo heute kein Konzept mehr die polyglotte Flut der Markt- und Wendeopfer aus den U-Bahn-Passagen zuriick ans Tageslicht holt.

Der Freisetzungsboom setzt nicht nur Arbeitnehmer ins Freie, sondern auch Wohn-kunden auf die StraBe, wo das Bett aus Asphalt, das Argument aus Gewalt ist: Da habt ihr es! Das Wohnrecht, das im Nach-Mai als Menschenrecht gait, ist im Wendesystem vollends zum Wuchergut fiir Meistbieter verkommen.

Uberhaupt sind Solidaritat und Gleichheit von Chancen und Rechten, zu lange als totalitar denunziert, einer tiickischen Freiheit und ihrer Kalte gewichen, die man nun so bald und ohne tiefe Konflikte nicht los wird. Wo Volksgruppen, Klassen, Religionen, Geschlechter und individuelle Erfolgsritter wieder ihr Sonderwesen, ihre heilige partiku-lare Identitat, kurz das Trennende suchen, wird auch mancher riskante Fundamentalis-mus leichtfertig wachgekiiBt, der schon entsorgt geglaubte und vergessene Feindbil-der wieder blank restauriert.

Zwischen Reich und Marcuse

Auch Lust und Leistung, ein paar Jahre lang unterwegs zur Versohnung, gehen wieder ge-trennte Wege: Lust muB verdient sein, Leistung muB wieder weh tun. Wilhelm Reich und Herbert Marcuse, orate pro nobis!

Ja, auch der Eros hatte ein paar bessere Jahre; und zwar, weil der Sex nicht abseits, sondern im Dienst des Eros stand. Frauen und Manner, zehn Jahre davor noch wie je Passagiere verschiedener Dampfer, fingen an, auf gemeinsamer Erde FuB fassend einem gemeinsamen Stern zu folgen.

Und weil gleiche Bedingungen gleiche Interessen begiinstigen, wurden erste Akkorde einer ganz neuen, kostbaren Sprache ver-nehmbar, die beide aussagte, beide betraf, wurden Umgangsweisen eingeubt und gelaufig, die, tiefer Rollenskepsis entsprun-gen, jeden gegenseitigen Definierungsdrang unterliefen, weil sie Ebenbildern eines Gottes entsprachen.

Riickfallige Kulturmorphologen von morgen (und schon von heute) werden ratios und hamisch das singulare Faktum vermer-. ken, daB Schmuck und Haartracht, Kleidung und Spiele einer kurzen Epoche, bei aller Buntheit, in Prinzip und Detail fiir Frauen und Manner der stiltragenden Jahrgange gleich waren.

Als der „lange Marsch durch die Institutio-nen”, den die „Neue Linke” um 1970 antrat, um 1980 schon schleppender, auch kompromiBreicher lief, wahrend verzweifelter Voluntarismus weitere Schritte iiber Terrorak-te erhoffte, war der neue Spaltpilz schon vielerorten aktiv.

Gegen die vereinte Lust der Geschlechter auf Emanzipation von Rollenzwangen jahrelang chancenlos, blieb er als Restaurator des „weiblichen Lebenszusammenhangs” und damit als Spalter der Menschen in Emmis und Femmis erfolgreich. Die Literatur seit 1980 zu Rolle und Menschenbild spiegelt die fruchtlose Fehde um die Beerbung des alten Herrschafts-Sexismus. Viel eintrachtig erliebter Garten wurde zur Wiiste.

Wo stand eine Weiche falsch? In welcher Tiir wurde ein PferdefuB iibersehen? War es das Prinzip der Selbstbestimmung kleinerer Einheiten vor groBeren, der Selbstverwirkli-chung des Menschen gegen Entfremdung und Strukturmacht, dem nur ein Regulativ gegen MiBbrauch durch private Motive fehlte?

Christlichen Mai-Veteranen konnte da auffallen: Was vielen neulinken Initiativen und Basisgruppen von hohem Problem- und BedarfsbewuBtsein die Luft nahm, geriet spater auch christlichen Basisgemeinden, oft ahnlich wie jene entstanden, zu Krise oder Verhangnis: daB namlich Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung einzelner, die dies zu fordern verstanden, mehr Substanz und Spielraum der Gruppe banden als fiir das Gruppenziel Ubrigblieb.

Also gelang es beispielsweise nicht, „systemuberwindend” die Uberzeugung zu verbreiten, daB solidarisch kontrollierte Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung der kleineren Einheit nicht nur diese vor Repression durch die groBere schiitzen, sondern auch dem Zweck der groBeren niitzen - trotz Machtentlastung und Strukturersparnis.

Der Pendelschlag ist heute schon weiter, der „lange Marsch” am Ziel vorbei. Die Basis wird von Solidaritatsresten entriimpelt und durch ZufluB besitz- und chancenloser Schichten zum Konkurrenz- und Auslesebek-ken degeneriert, wo das .Argument der StraBe” regiert.

Da habt ihr es! Wir haben es nicht verhin-dert. Und es hallt weltweit wider.

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