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Zwischen Mailand und Bozen

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In den letzten Wochen ist Siid- tirol im Schatten zweier Urteile eines italienischen Gerichtshofes und einer Parteigriindung gestanden. Der Losung des Siidtirolproblems ist man um keinen Schritt nahergekommen.

In Mailand wurde am 20. April das Urteil im zweiten „Siidtiroler- SprengstoffprozeB" verkundet. 36 Angeklagte wurden zu Freiheits- strafen zwischen acht Monaten und 30 Jahren Kerker verurteilt, 21 wurden freigesprochen. Insgesamt ver- hangte das Mailander Schwurgericht fiber die Angeklagten mehr als 350 Jahre Zuchthaus.

Die Geschworenen benotigten zur Urteilsflndung mehr als 52 Stunden, was fur die italienische Justiz- geschichte einen Rekord darstellt. Der Spruch des Mailander Gerichtshofes hat wenig dazu beigetragen, das Klima fiir eine Losung der Siid- tirolfrage zu verbessern. Hier wurden wieder Chancen versaumt, die nicht leicht nachzuholen sind.

Der Vorsitzende des Schwur- gerichtes, Dr. Lantieri, sprach nach der Urteilsverkiindung in einem kurzen SchluBwort von der „GroB- mut“ der . italienischen Justiz. Die im Saal anwesenden Siidtiroler quittier- ten diese pathetischen Worte mit eisigem Schweigen. Denn das Urteil, vor allem aber die exemplarische Strafe gegen den Innsbrucker Musikprofessor Dr. Gunther Ander- gassen, wurde allgemein als hart empfunden. Die wegen ihrer maB- vollen Sprache bekannte .frankfurter Allgemeine“ zogerte sogar nicht, daffir das Wort „drakonisch“ zu verwenden.

Drei nicht mehr am Leben

Am selben Tag, an dem im zweiten Mailander ProzeB das Urteil verkundet wurde, begann im GroBen Saal des Justizpalastes — heute schon allgemein „Saal der Siidtiroler Dinamitardi" genannt — das Beru- fungsverfahren gegen die Urteile des ersten ..Siidtirolprozesses". Im ersten Verfahren, in dem 68 Siidtiroler vor Gericht standen, mag diese Bezeich- nung noch zugetroffen haben, fiir den zweiten SprengstoffprozeB sicher nicht mehr. Bei ihm dominierten schon die auslandischen Angeklagten (Osterreicher und Bundesdeutsche), die Siidtiroler befanden sich weitaus in der Minderzahl.

Gegen jenen Mann, der dem ersten ProzeB in Mailand weitgehend seinen Stempel aufdriickte, kann die italienische Justiz nicht mehr vor- gehen. Sepp Kerschbaumer, der „Rebell von Eppan", ist mit 51 Jahren im Gefangnis von Verona gestor- ben. Wegen seiner Bekenntnisfreude und seiner Aufrichtigkeit wurde ihm auch von seinen Gegnem Ach- tung entgegengebracht. Selbst der Staatsanwalt fand fur ihn Worte der menschlichen Anerkennung. Im Gefangnis hatte sich Kerschbaumer immer nur fiir seine Mithaftlinge verwendet, an sich selbst dachte er kaum. In einem seiner letzten Briefe an einen Freund in Bozen bat er, sich fur die schon seit zehn Jahren inhaftierten „Pfunderer Burschen" zu verwenden, ebenfalls Opfer des „GroBmutes“ der italienischen Justiz.

Auch zwei andere Hauptange- klagte des ersten Mailander Pro- zesses weilen nicht mehr unter den Lebenden: Luis Amplatz und Kurt Weiser. Luis Amplatz, das „Herz“ der Siidtiroler Widerstandskampfer, fiel anfangs September 1964 auf einer Alm im Passeier einem Mord- anschlag eines vermutlich gedunge- nen bsterreichischen Agenten zum Opfer, Kurt Weiser verungliickte in den Schweizer Bergen. Das Schicksal scheint den Verfechtern der Gewalt- anwendung im Stidtirolstreit nicht gut gesinnt zu sein.

Der ProzeB Dietl

Knapp eine Woche nach der Up- teilsverkiindung im zweiten SprengstoffprozeB begann in Mailand das Verfahren gegen den Siidtiroler Parlamentsabgeordneten Hans Dietl. Zum erstenmal in der Geschichte Italiens stand ein Mitglied des hbchsten Legislativorgans des Staa- tes vor den Schranken eines Gerich- tes — noch dazu unter der Anklage des „Hochverrates“.

Dieser SensationsprozeB, der am 29. April mit einem vollen Frei- spruch in alien Punkten der Anklage endete, erbrachte allerhand Neuigkeiten. Unter anderem auch die in informierten Kreisen schon seit langem bekannte Tatsache, daB alle fiihrenden Siidtiroler Politiker und SVP-Vertrauensleute durch die italienische Polizei genauestens iiber- wacht werden. Alle Auslandsreisen werden aufgezeichnet. Wer offers uber den Brenner fahrt, muB gegen- wartig sein, sich automatisch des Verdachtes „subversiver Tatigkeit" auszusetzen.

Abgeordneter Dietl, einer der an- gesehensten Siidtiroler Politiker, wegen seiner Geradlinigkeit und seiner politischen Fahigkeiten auch von seinen erbittertsten Gegnem geachtet, hatte selbst die Aufhebung seiner parlamentarischen Immunitat verlangt, um sich gegen die schweren Anschuldigungen, die auf Grund von Aussagen Dr. Andergassens gegen ihn erhoben wurden, veteidigen zu konnen. Audi dies ist in Italien ohne

Beispiel. Selbst der sonst wenig sud- tirolfreundlich gesinnte „Corriere della Sera“ war von den oftmaligen Interventionen des Siidtiroler Ab- geordneten zur Aufhebung seiner Immunitat beeindruckt. „Dieses Ver- halten" — konstatierte er einiger- maBen verwundert — „gereicht ihm zur Ehre.“

Dietl war auf Grund von Aussagen Dr. Andergassens des „An- schlages auf die Einheit und Unver- sehrtheit des Staates", der „Banden- bildung“, der „politisdien Verschwo- rung“, ja sogar der ..Herstellung (!) und Aufbewahrung von Spreng- stoff“ beschuldigt worden. Andergas- sen widerrief diese Anschuldigungen spater.

Der Staatsanwalt, der nur die Anklage der ..politischen Verschwo- rung“ aufrechterhalten hatte, ver- langte fiir Dietl dreieinhalb Jahre Gefangnis. Dietls Verteidiger, der sozialistische Parlamentsabge- ordnete Loris Fortuna, beschwor hingegen den Gerichtshof, nicht einen Mann zu verurteilen, gegen den nicht einmal der ..Schatten eines Beweises" exisrtiere, isondern den man nur beschuldigen kbnne, seit 1945 immer unerbittlich und uner- schrocken fiir die Rechte Siidtirols eingetreten zu sein, fiir die Gewah- rung jener echten Landesautonomie, die Italien den Siidtirolem zwar versprochen, doch niemals gegeben habe.

Der voile Freispruch des Siid- tiroler Politikers, der am Vortag der Urteilsverkiindung Vater eines ge- sunden Buben wurde (und mit nun zwblf Kindem im italienischen Parlament den ..Familienrekord" halt), ist von weittragender Bedeutung. Er ist eine eindeutige Verurteilung ge- wisser Polizeimethoden in Siidtirol, eine Verurteilung gewisser poli- tischer Aufgaben, die sich die Polizei in Italien auch nach iiber 20 Jahren seit dem Sturz des Faschismus nodi immer anmaBt, sowie eine energische Bestatigung des Rechtes, seine Ge- danken und Worte im Rahmen der Verfassung frei zu auBern.

Das Urteil im Dietl-ProzeB kann freilich nur einen schwachen Trost fiir jene Ereignisse bedeuten, die sich in Siidtirol auf parteipolitischer Ebene abgespielt haben. Das poli- tische ..enfant terrible" der Siidtiro- ler Volkspartei, der Landtagsab- geordnete Dr. Egmont Jenny, wurde vom Schiedsgericht der Partei Mitte April wegen wiederholter schwer- wiegender Verletzungen der Partei- statuten sowie der Parteidisziplin ausgesdilossen. Dr. Jenny hatte seit Monaten gegen seine eigene Partei einen Privatkrieg gefuhrt.

Die Einheit gesprengt?

In der Urteilsbegriindung des Schiedsgerichtes wurde ausdriicklich hervorgehoben, daB das Bekenntnis des Angeklagten zum demokra- tisdien Sozialismus fiir die Urteils- findung „von keinem wie immer ge- arteten EinfluB" war. Und die vom Abgeordneten Dietl herausgegebe- nen ..Siidtiroler Nachrichten" stellten fest: ..Die SVP hat eine Einzelperson, nicht aber eine Richtung Oder eine Ideologic ausgesdilossen. Das ware ebenso voreilig wie unklug gewesen. Die SVP ist keine rein konservativ- katholisdie Partei und sie ist es nie gewesen. Audi Sozialdemokraten und Liberale mussen in ihr Platz und Aktionsmoglichkeit haben."

DaB die Grundung einer soziali- stisch inspirierten Partei in Siidtirol schon seit Iflngerer Zeit geplant war, bewies wohl am besten der Umstand, daB sie nodi am gleichen Tag, an dem das Urteil des Schiedsgerichtes bekannt wurde, konstituiert wurde. Die neue Partei, welche die poli- tisdie Einheit der Siidtiroler zu einem Zeitpunkt in Frage stellt, in dem sie widitiger als jemals zuvor ware, nennt sich ..Soziale Fort- schrittpartei". Ob sie in Siidtirol tatsachlich Fortschritte erzielen wird, ist jedoch fraglich. Eigene Listen neben der SVP hat es seit 1945 in Siidtirol schon einige gegeben, doch sind sie ohne Ausnahme schon bald nach ihrer Geburt wieder verstor- ben. Siidtirol kann sich den Luxus der Zersplitterung heute noch nicht leisten.

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