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Land mit drei Weltsprachen

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Das Aostatal im nordwestlichen Grenz- gebiet Oberitaliens ist das Land der Superlative: hier gibt es die hochsten Berge Europas, die groBten Hohenunter- schiede Europas, die kiihnsten und hochsten Seilbahnen Europas, die groBten Sommerskigebiete Europas, den groBten, schonsten und wildreichsten Naturschutz- park Europas — und die bestfunk- tionierende Regionalautono- mie Europas.

Das Aostatal ist auch geographisdi eine kleine Welt fiir sich, da es den Oberlauf der Dora Baltea von ihrem Ursprung aus den Gletschern der Montblancgruppe bei Courmayeur bis zu ihrem Eintritt in das der oberitalienischen Tiefebene vorgela- gerte Hugelland von Ivren umfaBt. Den wirtschaftlichen und Verwaltungsmittel- punkt des Tales bildet die kleine Stadt Aosta. Noch heute kiinden wohlerhaltene Stadtmauern, Tore und Reste eines groBen Theaters von Glanz und der Be- deutung der romischen Militarkolonie Augusta Pratoria, die Kaiser Augustus im Jahre 23 v. Chr. zum Schutz der StraBe liber den GroBen St. Bernhard anlegen lieB.

Aber auch sprachlich bildet das Aostatal eine vom Tiefland verschiedene Ein- heit. Hier wie in den iibrigen Grajischen und Cottischen Alpen reicht das franzosi- sdie Sprachgebiet uber den Zentralalpen- kamih hiniiber, und auch volkstummaBig, durch ihre altiiberlieferte Volkskultur und durch ihr ganzes Gehaben unterscheiden sich die „Valdotains“, wie sich die Be- wohner des Aostatales nennen, stark von ihren Nachbam italienischen Volkstums.

Jahrhundertelang war Franzosisch die Amts- und Kultursprache gewesen, zumal die Bevolkerung des Aostatales zusam- men mit der Savoyens einen zusammen- hangenden Block franzosischer Sprache innerhalb des italienischen Staatsgebietes gebildet hatte. Erst durch den Verlust Savoyens an Frankreich im Jahre 1860 verlor das Aostatal sein sprachliches Hinterland und wurde damit zu einem Min- derheitengebiet. Schon um 1880 begann der Kampf der romischen Zentralbiirokratie und der von ihr abhangigen Provinzial- burokratie gegen die franzosische Sprache. Um 1900 muBte im Aostatal bereits eine Liga zum Schutz der franzosischen Sprache gegriindet werden. Nach dem ersten Welt- krieg wurde dieser Kampf von den libe- ralen Ministerien weitergefuhrt und dann vom Faschismus in der brutalsten Form vervollkommnet.

Dadurch wurde die Erinnerung an die alten Freiheiten aber nur verstarkt. Als mit dem Zusammenbruch des Faschismus auch der straff zentralistisch organisierte italienische Einheitsstaat auseinanderzu- brechen schien, wuchs auch im Aostatal eine autonomistische Bewegung, die zuerst sogar den AnschluB an Frankreich erstrebte. Bereits im September 1945 wurde dem Aostatal daher eine selbstan- dige Regionalverwaltung gewahrt, und am 31. Janner 1948 billigte das Parlament ein besonderes Regionalstatut, das am

11. Marz 1948 in Kraft trat und dem Aostatal im Rahmen der italienischen Verfassung eine weitgehende Regional- autonomie zugestand. In den Zustandig- keitsbereich der Region fallen das ge- samte Schulwesen, die Sicherheit in Stadt und Land, die Land- und Forstwirtschaft, das StraBenwesen, die Durchfiihrung offentlicher Arbeiten, der Fremdenver- kehr, Sozialversicherung, Fiirsorge und Gesundheitsdienst, Industrie, Handel und Handwerk, Jagd und Fischerei und das regionale Verkehrswesen, um nur die wichtigsten Gebiete zu nennen.

Die .Autonome Region Aostatal , wie der offizielle Name lautet, umfafit ein Ge- biet von 3230 Qudratkilometer mit rand

100.000 Einwohnern. Sie hat ihr eige- nes Parlament, ihre eigene Regierung und ihren eigenen Pre side n t e n. Das Parlament heifit „Tal-

schaftsrat". Er besteht aus 35 Mitgliedem, die in freier, geheimer und direkter Wahl fiir vier Jahre gewahlt werden. Wahlen darf nur, wer mindestens ein Jahr im Tal ansassig ist, wahrend die Wahlbarkeit eine Ansassigkeit von drei Jahren vor-' aussetzt. Der Talschaftsrat wahlt unter seinen Mitgliedem einen Ministerprasi- denten, der die Regionalverwaltung leitet und dem Talschaftsrat die Minister fur die einzelnen Sachgebiete vorschlagt. Sie heiBen offiziell „Assessoren", und der ge- samte Ministerrat tragt den altiiberliefer- ten Namen „Jiinte“.

Die Regionalverwaltung hat sich nach allgemeinem Urteil sehr gut bewahrt. Ihr einziges Ziel sieht sie in der Erhaltung des einheimischen Volkstums und in der Verbesserung der Lebensbedingungen fiir zerdeutschen Sprachinsel Gressoney im Lystal am SiidfuB des Monte Rosa gibt es auBer dem normalen franzosisch-italieni- schen Schulunterricht noch Deutschkurse fiir die einheimische Bevolkerung, fiir die von der Region eine eigene Lehrkraft be- stellt und bezahlt wird. Als der italienische Staatsprasident Luigi Einaudi nach Gressoney kam, wurde er von kleinen Trachtenmadchen in deutscher, italieni- scher und franzosischer Sprache begriiBt. Gressoney ist wohl der einzige Ort Europas, wo schon die Kinder muhelos drei groBe Sprachen beherrschen!

Die Region bemiiht sich vor allem um die Existenzsicherung der Bergbauern, um die Landflucht aufzuhalten. Mit besonde- rem Nachdruck wird der StraBenbau vor- angetrieben, um das Ziel, samtliche Tal- siedlungen durch FahrstraBen miteinander zu verbinden, schnellstmoglich zu er- reichen.

Das Aostatal bildet nicht nur den Zu- gang zu den wichtigen Alpenpassen nach Frankreich viber den Kleinen St. Bernhard und in die Schweiz uber den GroBen St. Bernhard, sondern ist auch ein alt- beriihmtes und vielbesuchtes Fremden- verkehrsgebiet. Die Region unter- stutzt den Fremdenverkehr durch billige Kredite zum Ausbau der Hotels und zur Errichtung neuer Bergbahnen und Lifts, sie kampft um die Erhaltung der Land- schaft und hilft bei der Wiederherstellung alter Bauten und des urspriinglichen Sied- lungsbildes.

Natiirlich hat auch die Regionalauto- nomie des Aostatales ihre Sorgen. Sie muB standig gegen den traditionellen Antiregionalismus und Zentralismus der romischen Behorden kampfen und sich gegen die eingefleischten Nationalisten aller Parteilager wenden, denen der Kampf gegen alles „Fremdstammige“ in Sprache, Volkstum und Kultur als heiliges Ver- machtnis des Faschismus gilt. Die groBte Gefahr droht aber auch hier durch die Unterwanderung durch talfremde Krafte, die mit der Industrialisierung kamen und noch dauernd zuziehen. Uber der schonen alten Stadt Aosta liegt dauernd eine dichte Decke von Rauch und RuB und ver- dunkelt die Gletscher des nahen, 4167 m hohen Grand Combin. Der Qualm stammt aus den Hochofen im groBen Htittenwerk des staatseigenen Konzerns „Cogne", der im nahen Tal von Cogne am FuB des Gran Paradiso die hochstgelegenen Eisen- erzvorkommen Europas ausbeutet. Von den 8000 Arbeitem der .Cogne' stammen die meisten aus Suditalien, und von den

12.000 Industriearbeitem innerhalb der Talsdiaft stammen kaum 30 Prozent aus dem Tal. Die Zuwanderer bilden ein heimat- und besitzloses Proletariat ohne Bindung zum Tal, ohne franzosische Sprachkenntnisse, sind meist linksradikal eingestellt und schaffen einen bis dahin unbekannten Gegensatz zwischen Stadt und Land.

Trotzdem weist die Autonomie des Aostatales im ganzen ausgezeichnete Er-

folge auf. Vor allem fallt die vollige Be- seitigung des schwerfalligen biirokrati- schen Apparats auf, der in Italien von jeher konstruktive Aufbauarbeit behin- dert hat. Die Region ist klein und kann leidit ubersehen werden. Der eigene Ver- waltungsapparat ist ebenfalls klein und unterliegt daher der standigen Kontrolle der Bevolkerung.

Das Beispiel des Aostatales zeigt, dafi der Regionalismus eine ersprieBliche Ar- beitsteilung ermoglicht, die sofort Friichte tragt. Friiher dauerte es durchschnittlich drei Monate, bis ein Projekt den beh8rd- lichen Instanzenzug bis nach Rom durch- laufen hatte, drei Monate dauerte unge- fahr die Bearbeitung, drei Monate der Riickweg, so daB bestenfalls nach neun Monaten eine Entscheidung aus Rom ein- lief. Heute vergehen zwischen Plan und Ausfiihrung hochstens drei Monate, und gerade dieser Entbiirokratisierung durch die Regionalautonomie verdankt das Aostatal seine gewaltigen Aufbauerfolge und den Ruf einer beispielgebenden Ordnungszelle.

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