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Eine nachdenkliche Jugend
Was ich von Kindern gelernt habe? Wahrscheinlich mehr, als von allen Erwachsenen zusammen, ausgenommen vielleicht von meinen. Eltern.
Wieso wir von Kindern lernen können? Weil wir nie von den Starken lernen sollten, sondern von den Schwachen.
Ich bin jahrelang im Klassenzimmer gestanden, und die Arbeit mit der Jugend macht vielleicht den größten Teil meines Lebenswerkes aus. Ich bin dabei immer wieder auf jene Grundsätze gestoßen, die die christliche Weltanschauung und eine humanitäre Sozialdemokratie gemeinsam haben: Es geht im Leben um mehr als um Prestige, Laufbahn, Erfolg und Macht! Es geht um Aufgaben jenseits der Tagesaktualität. Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, zur Humanisierung unserer Welt beizutragen.
Was ist das für eine Welt, die wir den kommenden Generationen hinterlassen? Wir opfern dem Moloch Auto jährlich das Leben soundsovieler Kinder, der Wettbewerbskampf im Berufsleben entzieht die Eltern der Familie, die moderne Technologie, insbesondere die Atomkraft, ist längst nicht nur eine Dienerin des Menschen, unser wirtschaftlicher Er-
folgsraüsch gefährdet die Strukturen des Zusammenlebens genauso wie die Umwelt, und vielleicht die wichtigste Frage: Ist es erne Welt des Friedens, die wir unseren Kindern hinterlassen?
Alle diese Probleme sehen wir erst, wenn wir an das Leben unserer Kinder denken. Und können wir alle da wirklich immer sagen, wir hätten alles für die Jugend getan? Im materiellen Sinn ist viel geschehen; aber ist das wirklich alles? Macht es die jungen Menschen wirklich glücklich — hat ein steigender Wohlstand uns alle glücklich gemacht?
Vielleicht haben wir in der Hast der Erfolgsjahre ein bißchen das Nachdenken verlernt, das Zuhören, das Eingehen auf die Sorgen und Probleme der Menschen, insbesondere der jungen. Vielleicht haben wir versucht, uns von dieser Aufgabe durch eine Steigerung des materiellen Wohlstands freizukaufen — aber war das wirklich immer im Sinn der Jugend?
Ich habe einen Sohn, der heute als junger Mann selbständig im
Berufsleben steht. Obwohl weder sein Beruf noch mein Beruf sehr familienfreundlich sind, verbringen wir doch viel Zeit miteinander. Durch ihn und die vielen anderen jungen Menschen, die mich besuchen oder mit denen ich das Gespräch suche, erfahre ich viel von der Nachdenklichkeit unserer jungen Generation. Ich glaube, wir alle können von dieser Nachdenklichkeit viel lernen, und sie könnte uns helfen, die wahren Zukunftsprobleme anzupacken: eine lebenswerte Umwelt, eine humane Arbeitswelt, eine Gesellschaft, in der die Starken nicht rücksichtslos gegenüber den Schwachen sind, ein Wertsystem der Mitmenschlichkeit, der Toleranz, der Liebe und des Friedens.
Der Autor ist Bürgermeister von Wien.
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