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Einigkeit wurde nur demonstriert

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Großer Bahnhof sozialistischer und sozialdemokratischer Parteigrößen im Wiener Hilton-Hotel: Die Parteiführerkonferenz der Sozialistischen Internationale (siehe Stichwort, S. 2) tagte. Wenn auch SPÖ-Chef Bundeskanzler Kreisky nach der zweitägigen Konferenz frohlockte, daß es eine „vollständige Übereinstimmung unserer Ansichten" gegeben habe, dürfte es doch zu etlichen „Richtungskämpfen" gekommen sein.

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Großer Bahnhof sozialistischer und sozialdemokratischer Parteigrößen im Wiener Hilton-Hotel: Die Parteiführerkonferenz der Sozialistischen Internationale (siehe Stichwort, S. 2) tagte. Wenn auch SPÖ-Chef Bundeskanzler Kreisky nach der zweitägigen Konferenz frohlockte, daß es eine „vollständige Übereinstimmung unserer Ansichten" gegeben habe, dürfte es doch zu etlichen „Richtungskämpfen" gekommen sein.

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Uberhaupt hatte die großen westeuropäischen Parteien vergangene Woche die Tagungs-Wut befallen. Während Asien-Heimkehrer Bruno Kreisky seine Gastgeber-Rolle für die 85 Genossen aus allen Teilen der Welt sichtlich genoß, trommelte ÖVP-Chef Alois Mock in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Europäischen Demokratischen Union (EDU) Delegierte der konservativen und Mitte-Parteien Europas in London zusammen.

Die Tagesordnungspunkte waren bei der Sl-Parteiführerkonferenz in Wien und der Sitzung des EDU-Len-kungsausschusses in London angesichts der gespannten weltpolitischen Lage im wesentlichen dieselben: der sowjetische Einmarsch in Afghanistan, Maßnahmen gegen die sowjetische Expansions- und Menschenrechtspolitik und Fragen der Entspannungspolitik überhaupt. Die Schlußfolgerungen, die in Wien und London gezogen wurden, waren freilich unterschiedlich:

Während EDU-Vorsitzender Mock die Intervention sowjetischer Truppen in Afghanistan als „Bruch des Völkerrechtes und der Satzungen der Vereinten Nationen" bezeichnete, heißt es in der Erklärung der Sl-Par-teiführerkonferenz, daß diese Aktion „das Völkerrecht ebenso wie die Souveränität und das Selbstbestimmungsrecht dieses Landeä'verletzt". Die EDU wertet die Sowjetinvasion also um eine Spur schärfer.

Und eine schärfere Linie verfechten die konservativen und Mitte-Parteien der EDU auch im Hinblick auf einen Boykott der Moskauer Sommerspiele. Denn es stelle sich die Frage, ob die sowjetischen Führer die Spiele nicht beim sowjetischen Volk zum Beweis dafür mißbrauchen würden, daß die Welt ihre Außenpolitik hinnehme und anerkenne, stellte EDU-Vorsitzender Mock in einer Aussendung des ÖVP-Pressedien-stes fest. Daraus zieht die EDU den Schluß:

„Alle Parteien der EDU sollten daher die Auswirkungen Olympischer Spiele in Moskau sorgfältig prüfen, vor allem in weltpolitischem Zusammenhang: aus diesen Gründen bestand die Meinung, daß ein Boykott der Olympischen Spiele in Moskau vielleicht die beste Antwort wäre." Die Handschrift der britischen Konservativen ist in diesem Punkt unverkennbar ...

Eine Aussage zur Frage eines Boykotts der Moskauer Sommerspiele fehlt in der Erklärung der Sl-Parteiführerkonferenz vollkommen. Nicht daß die sozialistischen Parteichefs über dieses Thema nicht geredet hätten: Offensichtlich konnten die 85 Delegierten von mehr als 30 Parteien und Organisationen ganz einfach keine Einigung in dieser Angelegenheit erzielen.

Sl-Vorsitzender und SPD-Chef Willy Brandt ließ sich zwar die Erklärung abringen, daß die „Olympischen Spiele in der Form, in der sie angelegt waren, kaputt sind", ohne genauer auszuführen, was er damit meinte, blockte dann aber eine Meinungsbildung innerhalb der SI ab, wie am Rande der Konferenz zu hören war.

Studiert man die verschiedenen Entwürfe zur Schlußerklärung der Sl-Parteiführerkonferenz, lassen die verschiedenen Umarbeitungen auf eine Reihe anderer Richtungskämpfe zwischen Falken und Tauben innerhalb der SI schließen.

So wird im ersten Entwurf einer Schlußerklärung noch von einer „unverzeihlichen Art und Weise" des sowjetischen Vorgehens gesprochen. Und: „Die verantwortlichen Männer haben mit Billigung das Risiko einer bedenklichen Verschlimmerung der internationalen Spannungen hingenommen." Dieser Satz fehlt in der offiziellen, der internationalen Presse zugeleiteten Version der Schlußerklärung.

In der offiziellen Erklärung vermißt man auch einen anderen Satz, der im ersten Entwurf noch auf-" scheint: In Zusammenhang mit der Aufforderung an die Sowjetunion, alle ihre Truppen aus Afghanistan zurückzuziehen, wird dort gleichfalls verlangt, daß Moskau sich auf „Phasen eines solchen Rückzuges" festlege. In den Augen einiger sozialdemokratischen Parteiführer war letztere Aufforderung an Moskau möglicherweise ein zu unrealistisches Unterfangen an den Kreml - jedenfalls wurde davon Abstand genommen.

Detaillierter waren im zweiten und dritten Entwurf der Schlußerklärung auch die Feststellungen über die Mittelstreckenkernwaffen in Europa. In diesen beiden Entwürfen hieß es nämlich noch: „Dieser Entspannungsprozeß hat sich allmählich verschlechtert. Das hat sich deutlich bei der Aufstellung der SS-20-Raketen im westlichen Teil der Sowjetunion und der NATO-Entscheidung vom 12. Dezember 1979 über Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles (Marschflugkörper) gezeigt."

In der offiziellen Erklärung wird nur noch von „neuen Entwicklungen auf dem Gebiet der Mittelstrecken-Kernwaffen" gesprochen.

Auch in diesem Punkt dürften die „Tauben" innerhalb der Sozialistischen Internationalen die „Falken" schlußendlich überstimmt haben. Denn wäre die Textversion des zweiten und dritten Entwurfes in die Schlußerklärung aufgenommen worden, hätten damit die sozialistischen Parteiführer klar festgehalten, wer diesen Rüstungswettlauf im Mittelstreckenbereich eingeleitet Rat: nämlich die Sowjetunion durch die Aufstellung der SS-20. Diese Tatsache zuzugeben, dürften aber einige Genossen innerhalb der SI nicht gewillt gewesen sein, Hollands SP-Chef Joop den Uyl könnte einer davon gewesen sein.

Nachgeben mußte den Uyl allerdings in einer anderen Sache: Hatte er der Konferenz vorgeschlagen, eine offizielle SI-Mission nach Moskau und Washington zu entsenden, was auch im zweiten und dritten Schlußerklärungs-Entwurf Eingang gefunden hatte, fiel dieser Vorschlag schließlich dem Rotstift von Sl-Vor-sitzenden Brandt zum Opfer: „Mit einer Vermittlerrolle würden wir uns übernehmen", holte Brandt den holländischen Genossen auf den Boden der Realität zurück.

Unterschiedliche Auffassungen innerhalb der SI auch in der Frage der Teilbarkeit oder Unteilbarkeit der Entspannung. Den Uyl dazu: „Es ist durchaus möglich, Entspannung in einigen Bereichen und Span-nungszustände in anderen zu haben." Hingegen glaubt der britische Labour-Chef Callaghan, daß die Ent-

Spannung „logischerwejse" nicht teilbar sei. Und auch Bundeskanzler Kreisky stößt in dieses Horn: „Die Entspannung läßt sich nicht quantifizieren."

Scheinbar einig schien man sich in dieser Frage in London gewesen zu sein: Entspannung könne nur dann wirksam sein, wenn sie weltweit geübt werde, zum Beispiel in Afrika und im Mittleren Osten, nicht nur in Europa; so EDU-Vorsitzender Mock im ÖVP-Pressedienst. Kurz gesagt: Entspannung ist für die EDU nicht teilbar.

Was das zweite Folgetreffen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (Helsinki) anbetrifft, das im Spätherbst dieses Jahres in Madrid stattfinden soll, sprach sich die Sl-Parteiführerkon-ferenz für eine Fortsetzung der Konferenz-Vorbereitungen aus. Hingegen ist man in der EDU der Ansicht, daß die Madrider Konferenz .jedenfalls erst stattfinden sollte, sobald die Sowjetunion ihre Absicht klargestellt hat, die Helsinki-Schlußakte zur Gänze zu beachten".

Bei der EDU ist also eine gewisse Annäherung an amerikanische Standpunkte zur internationalen Krisensituation (Olympia-Boykott, Unteilbarkeit der Entspannung) festzustellen. Dabei ist die scheinbare Einhelligkeit der Auffassungen nach außen hin ebenso wie bei der Sozialistischen Internationalen als demonstrativ zu werten. Denn man kann es so recht nicht glauben, daß sich etwa die französischen Gaullisten in der Nähe von politischen Positionen Washingtons allzu wohl fühlen ...

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