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Evangelium im Rundfunk

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Aus der Euphorie, mit der der Zusammenbruch der UdSSR gefeiert wurde, ist die Ukraine mit einem Kater erwacht. Für die Unabhängigkeit muß ein hoher Preis gezahlt werden: Eine Inflationsrate von 100 bis 200 Prozent, 15 bis 20 Prozent Arbeitslose; die Behörden selbst sind unfähig, das Ausmaß dieses Desasters mit Zahlen zu belegen.

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Aus der Euphorie, mit der der Zusammenbruch der UdSSR gefeiert wurde, ist die Ukraine mit einem Kater erwacht. Für die Unabhängigkeit muß ein hoher Preis gezahlt werden: Eine Inflationsrate von 100 bis 200 Prozent, 15 bis 20 Prozent Arbeitslose; die Behörden selbst sind unfähig, das Ausmaß dieses Desasters mit Zahlen zu belegen.

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Das Desaster hat zunächst ein menschliches und ein moralisches Ausmaß, dem über den Äther der gesamten ehemaligen UdSSR mit einem Programm der Reevangelisa-tion begegnet werden soll. Auf RTL wird ein „Soft Porno”, der auf Deutsch kommentiert wird, gezeigt, auf dem Sportkanal werden Bilder der Tour de France ausgestrahlt, und dann erscheint vor einer gläsernen Kathedrale das Gesicht eines kalifornischen Fernsehevangelisten, dessen Predigt auf Ukrainisch synchronisiert wird. Auf einem weiteren Programm vermitteln die sophistischen Videoclips von angelsächsischen Rockgruppen ein psychedelisches Bild von der Welt, während der letzte Kanal ein festes Programm für „Apparatschiks” mit stereotypen politischen Reden anbietet. '

Zerstörter Mensch

An einem Nachbartisch im Restaurant des Hotels Dnjestr, das noch einen Rest „sowjetischer” Atmosphäre vermittelt, trinken junge Mädchen mit hübschen Gesichtern emsig Champagner und geben in demselben Augenblick den Gegenwert eines durchschnittlichen Monatslohns aus (45.000 Kopeken, das entspricht 15 Dollar). Einige Schritte davon entfernt schlagen Zuhälter einen Kunden nieder, einen Touristen oder einen Einheimischen mit Geld. Mafia-Stimmung!

Ein Wochenende wie jedes andere in der Stadt Lemberg, einer ehemaligen Perle des österreichischen Kaiserreiches, im äußersten Westen der ehemaligen Sowjetunion? Nicht für das junge Team von „Radio Voskre-synnia” (Radio Auferstehung), das kürzlich feierlich die brandneuen Räume seines Studios einweihte. Die Aufgabe dieser Mannschaft ist es, dem „Homo Sovieticus” das Evangelium anzubieten, diesem sowjetischen Menschen, der durch den Niedergang des Kommunismus sein Erbe angetreten hat: mit einem Mangel an Ethik und einem Vakuum an Ideologie.

„Die Leute hier sind in geistiger Hinsicht verkommen. Dies kann man an den täglichen Dingen des Lebens feststellen: Es fehlt an Beständigkeit, an sozialer Kultur, an Respekt vor sich selbst und den anderen.” Der belgisch-ukrainische Michel Dymid aus Charleroi war von Anfang an der Motor von „Radio Voskresynnia”, dessen Programme seit dem 1. April vom Staatlichen Ukrainischen Rundfunk in ukrainischer Sprache ausgestrahlt werden. Die täglichen Sendungen werden ab jetzt in Lemberg an Ort und Stelle und nicht mehr im Westen produziert. „Radio Voskresynnia” begann seine Arbeit 1989 unter der Schirmherrschaft des Ca-tholic Radio Television Network (CRTN) mit Sitz in Brüssel und wurde unterstützt durch „Kirche in Not/ Ostpriesterhilfe”. Die Sendungen wurden zunächst auf der Kurzwelle von Radio Monte Carlo ausgestrahlt.

Michael Dymyds Vater wurde während des Krieges nach Deutschland deportiert und mußte später in Belgien im Bergbau unter Tag arbeiten. Dymyd betrachtet sein Vaterland mit strengen, aber klaren Augen. Er hat sich vor zwei Jahren entschlossen, gemeinsam mit seiner Frau, einer Ikonenmalerin aus Lemberg, hier zu leben. Sie zusammen bilden ein Bündel an Kraft und Energie. „Es gibt einen ganz bestimmten Typus hier”, bemerkter, „den ,Homo Sovieticus': Die Menschen können nicht arbeiten, sie glauben immer, daß jeder nur darauf aus ist, sie auszunutzen. Ein grundlegendes Vertrauen in menschliche Beziehungen existiert nicht, alles was dem Staat gehört, kann getrost gestohlen werden. Es gibt 200 Millionen Menschen dieses Typs in der ehemaligen UdSSR. Selbst Menschen, die sich in der Kirche engagiert haben, fehlt es an konsequenter Ethik. Es wird eine ganze Generation brauchen, um diese Mentalität zu ändern.”

Für den jungen griechisch-katholischen Theologen ist das Verhalten dieser Menschen der Beweis dafür, daß der Mensch hier zerstört wurde, denn er kann nach außen hin ganz außergewöhnliche Dinge sagen, vorgeben, ein Heiliger zu sein, und im Inneren eine ganz andere Persönlichkeit sein.

Schlachten um die Seelen

Die Behörden finden in den Augen von Michel Dymyd keine Gnade mehr. Sie sind inkompetent, wissen sich zwar vor dem Ausland gut darzustellen, aber wenn es gilt, etwas in die Praxis umzusetzen, dann ist niemand zuständig. „Unser Radio und die Kirche überhaupt halten sie für eine gut genährte Kuh, die es kräftig zu melken gilt, denn sie kann ihnen zu Dollars verhelfen. Das sind die Menschen sowjetischer Prägung, häufig ehemalige Apparatschiks.”

„Radio Auferstehung” und „Radio Blagovest” („Radio Frohbotschaft”) laufen unter der Schirmherrschaft von CRTN, unterstützt von „Kirche in Not/ Ostpriesterhilfe”. Der Geist, in dem bei Radio Lemberg gearbeitet wird, ist ökumenisch. Michael Dymyd betont, daß die Programme für jedermann bestimmt sind und auch keinen rein konfessionellen Charakter haben. Es gibt orthodoxe Korrespondenten, die über das Leben der katholischen und orthodoxen Kirche in einem Geist der Brüderlichkeit und Wahrheit informieren. „Wir entfachen keine Polemik, und rühren auch nicht an Fragen, die Spannungen hervorrufen könnten. Unsere Politik lautet: Po sitive Nachrichten verbreiten, auf die verbindenden

Elemente hin weiet sen.

Sogar die Sendeleiterin von Radio Sofia in Moskau, dem offiziellen Organ der russisch-orthodoxen Kirche, war zur Einweihung der Studios des katholischen Rundfunksenders „Radio Voskresynnia” nach Lemberg gekommen. , Jch bin im Zeichen der Ökumene gekommen”, vertraute sie uns an, „um zu einer Verbesserung der Beziehungen zwischen den Orthodoxen und Katholiken, der Russen und Ukrainer beizutragen.” Die eigentliche Weihe nahm dann Kardinal Miroslav Lubachivsky, das Oberhaupt der ukrainisch-katholischen Kirche, vor. Zeichen dafür, daß die Ökumene sich trotz allem ausbreitet, und das auf einem quasi 70 Jahre lang brachliegenden Gebiet, auf dem keine Katechese möglich war und die Kirchen Besseres zu tun hatten, als sich gegenseitige Schlachten um die Eroberung der Seelen zu liefern.

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