6883993-1979_20_06.jpg
Digital In Arbeit

Gebremster Bibel-Boom

Werbung
Werbung
Werbung

Nimmt man an der Wertschätzung klassischer Werke der Weltliteratur Maß, die Moskaus Literaturkommissare bei der Festsetzung einer Auflagenstarke beibringen, so ist das Buch der Bücher zweifelsohne im Ansehen des Kreml gestiegen. Noch vor Jahren galt eine Handausgabe des Neuen Testamentes als unerfüllbarer Traum orthodoxer Theologiestudenten in Zagorsk oder Leningrad. Heute nähert sich diese Wunschvorstellung auch für den gläubigen Laien und UdSSR-Bürger der Realisierung. Zwar sind Bibeln auf dem sowjetischen Schwarzmarkt noch immer ein gefragter Artikel, für den hohe Preise erzielt werden. Bis zur Höhe des Monatslohnes eines Arbeiters lizitieren die Angebote. Das dürfte sich aber in Kürze ändern.

Bereits im Herbst 1978 hatten die Behörden den Baptisten den Import von 25.000 Bibeln durch das Stuttgarter Bibelwerk gestattet, nachdem schon zuvor die Druckerei des Moskauer Patriarchates für diese protestantische Glaubensgemeinschaft in ökumenischer Nachbarschaftshilfe 10.000 Exemplare der Heiligen Schrift hatte produzieren dürfen.

Inzwischen druckte auch die russische Orthodoxie die dritte Auflage ihrer Bibel von 1968. Immerhin war die beachtliche Auflage von 50.000 konzediert: das ist jene Höhenmarke, die einem guten Werk der Weltliteratur, etwa aus dem Bereich der Belletristik, aber auch den Spitzenproduktionen marxistisch-leninistischer Politologie zukommt. Woraus Robert Hotz in der „Neuen Zürcher“ schließt, daß die Bibel im Blickwinkel Moskaus schon als „bessere Literatur“ eingestuft werde.

1956, als zum ersten Male nach ur-denklichen Jahren der Moskauer Patriarchatsverlag wieder das komplette Gotteswort veröffentlichen durfte, war die Auflage noch wesentlich geringer gewesen. Bei der nunmehrigen Neuproduktion für 1979 handelt es sich um einen 1372 Seiten starken Oktavband. Dem Buche, das in Kunststoff sauber und geschmackvoll mit festem Deckel gebunden ist, liegen in einer Manschette sieben mehrfarbige Karten zur biblischen Historie und sechs bunte Buchillustrationen bei.

Was dem westlichen Bibelfreund ins Auge fällt* ist die größere Schrift des Neuen Testamentes und der respektable Zeilenabstand: offensichtlich sollen auch Handausgaben in der liturgischen Feier praktikabel sein und als kleine Altarmeßbücher Verwendung finden. Im Anhang zum Alten wie zum Neuen Testament sind denn auch die gottesdienstlichen Pe-rikopen, also die Lesungen für den jeweiligen Jahreskreis und die Festtage, aufgezeichnet. Zur besseren Ubersicht über den Ablauf der Frohen Botschaft bietet der Anhang zum Neuen Testament auch noch eine Synopse - eine parallele Nebeneinanderstellung - der Evangelientexte.

Die alttestamentarischen Bücher entsprechen in der Moskauer Patriarchatsedition in Reihenfolge und Benennung der „Septuaginta“, beziehungsweise der „Vulgata“, die der ersten slawischen Bibelübersetzung durch die Heiligen Kyrill und Method im 9. Jahrhundert zugrundelag. Im 17. und 18. Jahrhundert erlebte bekanntlich die russische Kirche eine Periode erbitterter Auseinandersetzung zwischen „Neuerern“ und „Altgläubigen“ um die Anerkennung der sogenannten „deuterokanonischen“ und „apokryphen“ Schriften des Alten Testamentes - gemäß dem Sprachgebrauch der Bibelwissenschaften.

Für die Altgläubigen blieben diese Schriften heilig und göttlich inspiriert, wurden doch diese Bücher von zahlreichen Kirchenvätern der Frühzeit zitiert. Sie haben unübersehbare Spuren in der russisch-orthodoxen Spiritualität hinterlassen. So haben die russische Bibelausgabe von 1968 und damit auch die Neuauflage 1979 keine theologischen Experimente unternommen. Der für die sowjetischen Gläubigen traditionelle Kanon der Heiligen Bücher bleibt gewahrt, ohne daß Modespekulationen der liberalen Bibelkritik des 19. und 20. Jahrhunderts riskiert wurden - was übrigens auch für jene westliche Bibeledition in russischer Sprache gilt, die der katholische Verlag „Vie avec Dieu“ in Brüssel 1973 besorgte.

Erscheinen auch 50.000 Bibeln für mehr als 30 Millionen orthodoxe Christen auf dem Territorium der UdSSR wie ein Tropfen auf heißem Stein, so gibt es nun eine nicht unerreichbare Chance, ohne Gefahr und finanziellen Uberdruck zu einem eigenen Exemplar des Heiligsten aller Bücher zu kommen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung