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„Gehen“ im Kreis

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„Es ist ein ständiges zwischen allen Möglichkeiten eines menschlichen Hirns Empfinden und zwischen allen Möglichkeiten eines menschlichen Charakters Hinund-hergezogenwerden.“ Dieser Satz, der isoliert auf der ersten Seite der Erzählung „Gehen“ von Thomas Bernhard steht, demonstriert bereits klar, daß hier virtuose Unklarheit Trumpf sein soll. Pedantische Leser mögen, nachdem sie gemerkt haben, daß „ständiges“ nur ein Attribut bilden kann, sich auf die Suche machen, worauf es bezogen werden soll. Sie werden finden, daß das weitschweifige Satzgebilde den simplen Grundgedanken ausdrückt: „Es ist ein ständiges ... Denken und ... Empfinden und ... Hinundhergezogenwer-den.“ Bernhard läßt ja immer wieder eine Figur das ganze Buch hindurch auf maniriert formulierende Art monologisieren und hat damit, merkwürdigerweise, ständig Erfolg, zumindest beim Großteil der Kritik. Marcel Reich-Ranicki freilich, der unbefangenste Beobachter deutscher Literaturentwicklung in unserer Zeit, sagt zu diesen redselig hochgestochenen Gemeinplätzen, sie „ertrinken leider in einem Ozean von Platitüden und in einem wirren Gerede“.

Es geht wieder darum, zu zeigen (das heißt schon längst: verstärkt zu wiederholen), man komme „das ganze Leben nicht mehr aus Entsetzlichkeit und Unwahrheit und aus Lüge heraus“, denn „es ist etwas Gemeines, es ist etwas Niedriges, es ist etwas Unverschämtes, es ist etwas ungeheuerlich Trostloses, was wir tun, und daß naturgemäß falsch ist, was wir tun, ist selbstverständlich. So wird uns jeder Tag zur Hölle“ und genauso weiter. Das Vokabular mit negativem Inhalt inv Deutschen erweist sich aber als beschränkt, und genauso beschränkt, stilistisch wie intellektuell, wirkt diese viel weniger überzeugende als überzeugte Lamentierprosa von Thomas Bernhard, welche eine Daseins-, Welt- und Umweltbeschimpfung quasi aus kosmischer Sicht vorstellt, somit nicht bloß soziologisch kritisieren und korrigieren, sondern mit philosophischem Elan in alle Ewigkeit verdammen will. Nur erreicht dieser Elan niemals auch nur das bescheidenste philosophische Niveau: Jeremiade eines Mini-Schopenhauer oder, wienerisch ausgedrückt, eines geradezu fanatischen Jammerpepi.

Denn nahm schon jene „Ver-störung“ eine sogenannte Steiermark als eher symbolisches Beispiel dafür, wie verfehlt der Weltplan samt seiner Ausführung sei, so wird diesmal Wien und Österreich überhaupt stellvertretend zum Prototyp allen Lebensunglücks gemacht. „Gehen“ (und dabei immerfort reden) von der Klosterneuburger-straße bis in die Aiserbachstraße und zurück, mit Erwähnung der Friedensbrücke, des Franz-Josefs-Bahnhofs, ja sogar eines dort liegenden Modewarenhauses, des Döblinger Friedhofs, einiger Gemeihdebezirke, nicht zu vergessen, daß Karrer, als er verrückt wurde, „sofort nach Steinhof hinaufgekommen ist“.

Vom Verrücktwerden redet Thomas Bernhard am liebsten. Es stimmt schon, wenn Reich-Ranicki von diesem Autor sagt, „daß die Psychologie offenbar seine Leidenschaff, doch nicht unbedingt seine starke Seite ist“, denn da wie dort „wartet er mit Motiven auf, die in der Regel oberflächlich und schablonenhaft anmuten“. Die Geschichte beginnt so: „Während ich, bevor Karrer verrückt geworden ist, nur am Mittwoch mit Oehler gegangen bin, gehe ich jetzt, nachdem Karrer verrückt geworden ist, auch am Montag mit Oehler.“ Und nachdem Gehrichtung und Gehtempo umständlich erörtert sind, erzählt Oehler 100 Seiten hindurch von Karrers Verrücktwerden und davon, daß eigentlich alles zum Verrücktwerden wäre. Die Erzählform wird hier zur Rahmenform für einen mit Recht nicht gewagten Essay: Denn dazu hätte das Ganze zuwenig Argumentationssubstanz. Allerdings, für eine Erzählung ist es wieder zuwenig erzählenswert. Der heutigen Kritik imponiert es wohl darum, weil es im sprachlichen Gestus gar so pathologisch wirkt. Daß ein bloßer Bücherfreund, auch ein interessierter und aufmerksamer, diese langweilig totale Monotonie bis zum Schluß durchhält, ist nicht sehr wahrscheinlich.

Wittgenstein und Ferdinand Ebner werden gesprächsweise erwähnt, auch ein Hosenerzeuger, bei dem sich Karrer regelmäßig (in Gesellschaft Oehlers) sämtliche Hosen zeigen und den Hosenboden gegen das Licht halten ließ, worauf er die englische Stoffqualität erbittert zu bezweifeln und als tschechische Ausschußware zu verdächtigen pflegte, ferner Scherrer, der behandelnde Arzt, der durch das „Unvermögen, überhaupt folgerichtig zu denken“ und andere Sarkasmen gekennzeichnet wird, und „das zu unwahrscheinlicher Geistesschärfe befähigte Gehirn Karrers“ wird mehrfach gepriesen, doch bleibt uns jede Kostprobe solcher Geistesschärfe vorenthalten. Auf sprachliche Eigenheiten einzugehen, ginge zu weit. Die Diktion ist zweifellos stilisiert, gewollt plump, es bleibt aber unerfindlich, was damit erreicht und dargestellt werden soll, da es doch die Philippika von turmhoch über der sonstigen Menschheit stehenden Personen sein will. „Und daß alle Kinder, die gemacht werden, kopflos gemacht werden, sagt Oehler, ist eine Tatsache. Mit dem Kopf wird kein Kind gemacht“, gewiß nicht, selbst das Werk eines so vielfach preisgekrönten Schriftstellers wird mit der Hand geschrieben.

GEHEN. Von Thomas Bernhard. Suhrkamp-V erlag, Frankfurt am Main 1971. 103 Seiten. DM 3.—.

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