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Gewissensfrage an den Arzt Wer kann überleben?

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Lawinen, Massenkarambolagen, Zugsunglücke, Flugzeugabstürze, Hochwasser, Brandkatastrophen - die tägliche Unglücksbilanz der Tageszeitungen macht auch vor Österreich nicht halt. Dutzende, in schweren Fällen Hunderte von Verletzten, die unter Extrembedingungen versorgt werden müssen, stellen die Ärzte vor ungewohnte, meist auch unbekannte Probleme. Die Katastrophenmedizin ist zu einem in Friedenszeiten noch wenig anerkannten Zweig der Heilkunde geworden, die dringend nach stärkerer Beachtung verlangt. An der Universität Wien vertritt Univ.-Dozent Dr. Otto Wruhs dieses Fach mit einem Lehrauftrag. Die folgenden Ausführungen sind Auszüge aus einem Kongreßreferat.

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Lawinen, Massenkarambolagen, Zugsunglücke, Flugzeugabstürze, Hochwasser, Brandkatastrophen - die tägliche Unglücksbilanz der Tageszeitungen macht auch vor Österreich nicht halt. Dutzende, in schweren Fällen Hunderte von Verletzten, die unter Extrembedingungen versorgt werden müssen, stellen die Ärzte vor ungewohnte, meist auch unbekannte Probleme. Die Katastrophenmedizin ist zu einem in Friedenszeiten noch wenig anerkannten Zweig der Heilkunde geworden, die dringend nach stärkerer Beachtung verlangt. An der Universität Wien vertritt Univ.-Dozent Dr. Otto Wruhs dieses Fach mit einem Lehrauftrag. Die folgenden Ausführungen sind Auszüge aus einem Kongreßreferat.

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Die Katastrophenmedizin ist der wichtigste Teil einer umfassenden Katastrophenhilfe, die viele Bereiche betrifft Die Ärzte können den Opfern nur helfen, wenn der Weg zu ihnen geöffnet und dauernd offengehalten wird.

Eine wirksame Katastrophenhilfe muß nach einem Stundenplan erfolgen. In jeder Phase kommen dem Arzt wichtige Aufgaben zu. Der ärztliche Auftrag muß allgemein lauten:

„Die Summe der Verluste auf das mögliche Minimum reduzieren.“

Das erste Ziel der Bemühungen muß es sein, den Primärschaden zu erfassen und Sekundärschäden zu vermeiden. Die ärztlichen Aufgaben umfassen im einzelnen:

• Beratung der politischen Behörden bei der Einsatzleitung nach Lagebeurteilung und Schätzung der Zahl der Opfer.

• Eigentliche Maßnahmen im TCata- strophengebiet, wozu in erster Linie die Sortierung der Opfer nach Prioritäten, also die „Triage“, und die unmittelbare Erstversorgung gehören.

• Die Verteilung der Opfer unter Be rücksichtigung der Katastrophenlage ] und’ £ęr, Versorgyngslage..,; fejj 7r(i

• Die Definitiwersorgung.

Um diesen Aufgaben gerecht werden zu können, ist ein grundsätzliches Umdenken für den Katastrophenmediziner notwendig. Wird das ärztliche Handeln im medizinischen Alltag vom Prinzip der optimalen Versorgung des einzelnen beherrscht, so muß im Katastrophenfall von der Individualmedizin abgewichen werden, weil die Berücksichtigung der Bedürfnisse aller im Vordergrund steht. Daher ist die Selektionierung der Opfer, die „Triage“, die wesentliche Voraussetzung jedes wirksamen Einsatzes der im Katastrophenfall stets beschränkten personellen und materiellen Potenz.

In drei Dringlichkeitsstufen müssen vier Gruppen aus der GesamtBeit der lebenden Opfer eingeordnet werden:

• Die erste Dringlichkeitsstufe stellen die Vital-Gefährdeten dar. Sie haben nur dann die Chance, zu überleben, wenn unmittelbar wirksam Hilfe geleistet wird: Verletzte mit Störungen der Atemfunktion, massiven Blutungen nach außen und Schockierte. Diese Fälle der höchsten Dringlichkeitsstufe haben Behandlungspriorität. Es geht bei ihnen nicht um die Feststellung von Diagnosen, sondern einzig und allein um die Ermittlung der Ursache der vitalen Gefährdung, und um rasche, wirksame Hilfe. Die Zahl dieser Fälle beträgt etwa 20 Prozent der Gesamtzahl.

• Zur zweiten Gruppe mit Transportpriorität gehören alle jene Fälle, die innerhalb von Stunden versorgt werden müssen: Patienten mit ausgedehnten Weichteilwunden, offenen und geschlossenen Knochenbrüchen, Gelenkverletzungen, Wirbelbrüchen ohne Lähmungen, Verbrennungen mit Uberlebenschance, Schädel- Hirn-Verletzungen und Verletzungen des Uro-Genitaltraktes. Manche dieser Fälle werden erst durch entsprechende Maßnahmen, wie Schienung, Verbandanlegung und Lagerung, transportfähig. Auch die Zahl dieser Opfer beträgt etwa 20 Prozent der Gesamtheit.

• Die dritte Dringlichkeitsstufe ohne Zeitdruck umfaßt einmal die etwa 40 Prozent Leichtverletzten. Diese können zum Teil ohne fremde Hilfe das

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Katastrophengebiet verlassen.

Schließlich gehört in diese Kategorie aber auch das beklagenswerte Kollektiv jener Schwerstbetroffenen, die unter Berücksichtigung der Katastrophensituation als hoffnungslos angesehen werden müssen. Die Zahl dieser Fälle beträgt ebenfalls 20 Prozent. Hiezu gehören: Polytraumatisierte, Opfer mit Zwei-Höhlen-Verletzungen, hohen Querschnittslähmungen und, Verbrennungen von über 40 Prozent der Körperfläche und entsprechender Tiefe.

Es ist selbstverständliche Forderung, daß die Einreihung in diese Gruppe nur nach strenger Prüfung zulässig ist. Jede über die Linderung des Schmerzes hinausgehende Maßnahme muß jedoch im Hinblick auf den Ge- samtauftrag- die Zahl der Verluste auf das Minimum zu reduzieren - unterbleiben, stellte sie doch eine Verringerung der Uberlebenschancen der rettbaren Fälle dar. Die Verpflichtung, rettbare Fälle von hoffnungslosen zu trennen, gehört zu den ethisch und moralisch am stärksten belastenden ärztlichen Aufgaben überhaupt.

Der räumlich nächste Helfer ist bei entsprechender Ausbildung auch der beste Helfer mit den größten Chancen auf wirksame Hilfe. Das hat sich bei Lawinenkatastrophen immer wieder bestätigt. Daraus erklärt sich auch die Forderung einer möglichst alle Bürger umfassenden Ausbildung in Erster HUfe.

Ganz im argen liegt die Information und Ausbildung der jungen Ärzte auf dem Gebiet der Katastrophenmedizin. Nur wenige verfügen über gewisse Grundkenntnisse - und dies dann meist nicht von der Universität, sondern durch die Teilnahme an Rot- Kreuz-Kursen oder aus Studienaufenthalten im Ausland.

In den USA etwa erhalten Krankenhäuser nur dann eine staatliche Subvention, wenn sie über Katastrophenpläne verfugen, diese regelmäßig den geänderten Verhältnissen der Umwelt, aber auch der Eigenart des Krankenhausbetriebes anpassen und regelmäßig Übungen abhalten.

Im Gegensatz dazu bestehen in Österreich nur in wenigen Krankenhäusern Katastrophenpläne. Diese enthalten meist nur Anweisungen über die Erreicharkeit der wichtigen Personen im Krankenhaus. Nicht geregelt dagegen ist meist die Änderung der Krankenhausorganisation im Katastrophenfall, wie die Eliminierung der Besucher, die Sperrung der Nebeneingänge, die Maßnahmen zur Entleerung der belegten Stationen, die Verlegung in andere Ausweichkrankenhäuser oder gar die Heranführung personeller Reserven aus anderen Krankenhäusern. 1

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