6887358-1979_32_12.jpg
Digital In Arbeit

Glaube und Aberglaube in 6000 alten Gebeten

19451960198020002020

Nicht nur in Polen, auch in Ungarn ist die Religiosität tief im Volk verwurzelt. Davon zeugt das Werk der ungarischen Ethnologin Zu-szanna Erdelyi, die seit 1968 in Ungarn und der Slowakei 6000 Texte alter Gebete gesammelt hat. In 300 Einsatztagen hat sie an ebenso vielen Orten Material gesammelt, in Wallfahrtsorten, bei Volksfesten, in Altersheimen vertrauten ihr die Menschen an, was sie zu beten gewohnt sind.

19451960198020002020

Nicht nur in Polen, auch in Ungarn ist die Religiosität tief im Volk verwurzelt. Davon zeugt das Werk der ungarischen Ethnologin Zu-szanna Erdelyi, die seit 1968 in Ungarn und der Slowakei 6000 Texte alter Gebete gesammelt hat. In 300 Einsatztagen hat sie an ebenso vielen Orten Material gesammelt, in Wallfahrtsorten, bei Volksfesten, in Altersheimen vertrauten ihr die Menschen an, was sie zu beten gewohnt sind.

Werbung
Werbung
Werbung

Zuszanna Erdelyis Interesse für dieses Thema wurde durch einen Zufall geweckt: Sie sammelte Volkslieder und Volksweisen; dabei traf sie auf ein 98jähriges Mütterchen, das ihr ein „Gebet“ vortrug, in einem fremdartigen Rythmus, mit einem völlig unbekannten Text. Erdelyi griff dieses Novum auf und widmet sich seither diesem Stoff. Das Ergebnis -mehrere Schränke voller Tonbänder, über 6000 Gebetstexte, zwei Bücher, zahlreiche Publikationen, Schallplatten, Vortragsabende unter Mitwirkung namhafter Künstler -war Anlaß genug, im Lande wie auch unter den Exilungarn beachthches Aufsehen zu erregen.

Was sind diese alten volkstümlichen Gebete eigentlich? Erdelyi bezeichnet sie als „mündlich überlieferte archaische Volksdichtung mit sakraler Thematik“. Spuren ihrer Motive wie auch sprachliche “Eigenheiten können bis in das 13. Jahrhundert zurückverfolgt werden; es finden sich darin aber auch mythische Elemente aus Urreligionen. Die Forscherin wähnt, in ihnen sogar Hinweise auf eine verschollengegangene ungarische Gralssage nachweisen zu können.

Der vor wenigen Jahren verstorbene Ethnologe Gyula Ortutay meinte zu diesen Gebeten: „Zweifellos reichen einzelne Momente dieser Gebete und Anrufungen bis in die vorchristliche Zeit zurück, und ihre Motive, ihre epische, sich wiederholende Struktur lassen sie anhand ihrer verwandten Züge mit alten Beschwörungsformeln zeitlich ziemlich genau einordnen. Der Großteil dieser Texte weist daraufhin, daß sie in einigen Wendungen, Formen, diesem oder jenem Motiv oder auch nach Art der herkömmlichen Struktur des Gebetes auf die Gebete des frühen Mittelalters und der Gotik zurückgehen ... Die Hauptbestandteile stammen der Ausdrucksweise nach aber doch aus dem Barock.

Die Gebete sind - ihrem Inhalt nach - apokryph, von der Kirche nicht nur nicht sanktioniert, sondern sogar verboten. Von dogmatischer Sicht her ist dies vollkommen verständlich, stellen doch die Texte theologische Absurditäten dar: stellenweise gestatteten und verbreiteten sie völlig eigenmächtig religiöse Funktionen, die mit den Glaubenswahrheiten der Kirche nicht konform gingen:

• „Dem, der dies' Gebet jeden Morgen und jeden Abend betet, werden alle Sünden vergeben werden ...“

• „Ihr, die Ihr dies' Gebet zweimal täglich sprecht, werdet mit mir im Paradiese sein; nicht einmal das Fegefeuer werdet Ihr zu sehen bekommen ...“

• „Wer dies' Gebet abends beim Schlafengehen und morgens beim Aufstehen, und das jeden Tag, spricht, wird rechtzeitig die Stunde seines Todes erfahren, und die Pforten des Himmels werden vor ihm äüf-getan werden.“ •

Auch die Ubermittler der Gebete selber sind sich im Klaren darüber, daß die Kirche diese Gebete ablehnt.

Trotzdem bringen diese Gebete eine tiefe Gläubigkeit des Volkes zum Ausdruck. Inhaltlich beziehen sie sich vorwiegend auf das Leiden Christi und Maria, auf den Kreuzestod des Herrn.

Manchen mag es seltsam anmuten, daß in einem kommunistisch regierten Land von einer Privatperson Gebete gesammelt werden (wenngleich dies keineswegs ohne Schwierigkeiten durchgeführt werden konnte). Ortutay rechtfertigt diese Tatsache: Wenn wir diese Anrufungen und Gebete lesen, werden wir auch die vergangenen Epochen ungarischen wie gesamteuropäischen Zeitgeschehens verstehen, die Flucht des ausgelieferten Individuums wie auch der Gemeinschaft. Sie suchen bei jener übernatürlichen, über der Gesellschaft stehenden Kraft Zuflucht, die als einzige noch imstande sein konnte, ihr Elend zu lindern. Bar jeglicher vulgärer Ausdrucksweise beleuchten diese Gebete und Anrufungen auf das deutlichste den geistigen Stil des Bauerntums in den Zeiten des Feudalismus, ihr gesellschaftliches Ausgeliefertsein, die Begrenztheit ihrer Möglichkeiten. Diese Gebete, seien ihre Quellen nun bis auf bekannte Verfasser zurückzuverfolgen oder auf Anflehungen, Beschwörungsformeln, die Jahrtausende hindurch zur Abwendung von Übeln angewendet wurden, in jedem Falle führen sie uns das Verhalten, die Wertordnung, Zufluchtsbestrebungen des unterdrückten, ausgelieferten Volkes vor Augen, deutlicher als viele historische Quellen...“

Ortutays Ausführungen berücksichtigen aber nur die sozial bedingten Aspekte des Leidens. Nicht nur Unterdrücktsein bedeutet Elend und Leiden. Krankheit und Tod sind und waren von jeher genauso starke Motive inbrünstiger Gebete und Anflehungen.

Betrachtung und Nachvollzug der Leiden Christi und Maria können ebenso Ausdruck tiefreligiösen Empfindens und Denkens sein. Auch stellten die Gebete damals wie heute das Reden der Seele mit Gott dar. In ihren Versprechungen enthalten die Gebete seelisches Gut, niemals irdische Gaben: Vergebung der Sünden, das Entgehen der Höllenqualen, des Fegefeuers, oder auch einfach nur Seelenfrieden.

Das Sammeln der Gebete war vom Anfang bis zum Schluß mit Schwie-. rigkeiten verbunden: die Auseinandersetzungen mit den Behörden nahmen kein Ende. In der Einleitung ihres Buches schreibt Zuszanna Erdelyi: „Vor ein paar Jahren hätte ein Stoff solchen Charakters noch kaum Thema einer öffentlichen Forschung sein können ... Die von der Weltanschauung wie von der allgemeinen Einstellung her starre Haltung der fünfziger und sechziger Jahre hätte jene Atmosphäre, welche zur Entfaltung dieses Stoffen notwendig war, nicht gewährleisten können .. .Reste dieser geistigen Einstellung verfolgten auch mich noch im Laufe meiner Forschungsarbeit, wenn -amtliches oder halbamtliches Verhalten auf Grund von Unverständnis oder Mißverständnis bezüglich der Materie mir peinliche Minuten einbrachte...“

Aber auch mit den kirchlichen Behörden gab es Schwierigkeiten, da von dieser Seite die Gebete, die höchstens heimlich zu Hause, niemals aber in der Kirche gebetet wurden, verboten und als abergläubisch und sektiererisch verpönt waren. Schließlich sagte der spätere Kardinal Läszlö Lekai, damals Bischof von Vesz-prem, Erdelyi seine Hilfe zu.

Auf Grund der bischöflichen Rundschreiben, die die Forschungsarbeit der Gebete-Sammlerin sanktionierten, setzte sich denn auch nach und nach bei den kirchlichen Stellen das Verständnis dafür durch; heute sind die Pfarrer, Kapläne und Seminaristen die eifrigsten Helfer der Forscherin.

Aber selbst bei den Personen, die den Stoff lieferten, stieß sie immer wieder auf Mißtrauen, Zurückhaltung und Widerstand. Nieht selten gab es Vorbehalte: „... Kindchen, Sie treiben aber doch wohl nicht irgendwelchen Spott damit? Denn heutzutage ...“ Oder etwa in der Slowakei: „... Aber nicht, daß dann irgendein Schaden daraus entstehe ... Sie wissen ja, heutzutage darf man nicht einmal mehr beten oder darüber reden, wir leben in einer sehr andersartigen Zeit...“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung