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Grantiger alter Mann

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Nach dem zweiten Weltkrieg regierten durch viele Jahre die sogenannten großen alten Männer — the grand old men — die Welt. Churchill und Adenauer, Truman und De Gasperd, Schumann und Raab waren in der freien Welt die Patriarchen, die über riesige Herrschaftsbereiche geboten, während Josef Stalin als grand old man die östliche Welt unter seinem Zepter vereinigt hatte. Diese großen alten Männer sind verschwunden. Nur die drei Generale Franco, Tito und Tschiang-kaischek regieren noch als letzter Rest dieser Art von Herrschern über kleine Gebiete.

Insgeheim beginnt sich aber die Herrschaft eines anderen grand old man immer mehr auszubreiten, zumindest in der freien Welt. Dieser große alte Mann ist zugleich ein grantiger alter- Mann. Rußland hat vor vielen Jahren versucht, das Weihnachtsfest durch die Erfindung des „Väterchens Frost“ zu verdrängen. Dieses Väterchen stellt eine Art russischer Ausgabe des europäischen Weihnachtsmannes dar. Der Versuch der östlichen Machthaber mißlang vollkommen. Weder in Rußland noch in den Staaten seiner Verbündeten war es möglich, die Herrschaft des Christfestes durch die Herrschaft des Weihnachtsmannes zu brechen.

Dagegen beginnt in Europa langsam, aber «icher, die Herrschaft dieses grantigen alten Mannes das christliche Weihnachtsfest in den Schatten zu stellen. Als die Reformation die Heiligen überflüssig machte, wurde das Beschenken, das bisher am Fest des hl. Nikolaus üblich war, auf das Weihnachtsfest verschoben. Dies war an sich keine schlechte Lösung. Denn die Geschenke, die sich die Menschen zu Weihnachten gaben und insbesondere den Kindern machten, sollten ein Ausdruck der Freude sein, die die Menschen aus Anlaß der Geburt des Erlösers empfanden.

Der hl. Nikolaus muß eine sehr willensstarke Persönlichkeit gewesen sein, denn er ließ sich nicht ohne weiteres verdrängen. Er tauchte wieder auf, wenn auch in säkularisierter Form als Weihnachtsmann, dessen Bischofsmütze traurig als Zipfelmütze nun vom Haupte hing. Der Weihnachtsmann, der neben dem Christkind ihnen ebenfalls Geschenke brachte, wurde zu einem Märchen, den Kindern gern und oft erzählt. Weite Teile der heutigen freien Welt sind entchrist-licht. Das Christfest ist für viele Menschen sinnlos geworden, denn die Basis, auf dem es beruhte, der Glaube an die Geburt des Erlösers, haben die Menschen diesem Fest entzogen. Aber was den Menschen von diesem Fest geblieben ist, ist die Freude am Schenken und am Beschenktwerden. Das Weihnachtsfest ist für viele Menschen eine Chance, sich in einen ungeheuren Geschenkrummel zu stürzen. Aber dieser Geschenkrummel hat auch eine sehr unangenehme Begleiterscheinung. Der heutige Mensch ist durch seinen Lebensstil ohnedies schon nervös. Durch diesen Geschenkrummel, in den sich die Menschen zur Weihnachtszeit stürzen, werden sie noch nervöser. Jeder Mensch ist Ständig in Versuchung, grantig zu sein. Jeder Mensch gibt mehr Geld aus, als er es eigentlich tun dürfte, und wird auch aus diesem Grunde schon mißmutig. Das Schenken macht ihm eigentlich gar keine Freude. Viele Menschen erscheinen in der heutigen Zeit als eine Miniaturausgabe des Weihnachtsmannes, dieses säkularisierten hl. Nikolaus, der als brumm!“' alter Mann durch die Welt geht und eigentlich grantig und unglücklich ist, weil er Geschenke verteilen muß. Von der Freude des Christfestes ist nur wenig zu spüren.

Der Spruch von der sogenannten guten alten Zeit ist ein Märchen. Eine gute alte Zeit an sich gab es niemals. Immer gab es in der Welt Unglück, Leid und Schmerz. Natürlich gibt es in jedem Leben schöne Minuten und Stunden, an die sich jeder Mensch gerne zurückerinnert. Auch im Leben eines jeden Landes gab es friedvolle Zeiten und wird es solche wohl immer geben. Niemand kann auch sagen, daß in der sogenannten guten alten Zeit die Welt christlicher war als heute. Natürlich gab es Epochen, in denen sich viel mehr Menschen unserer Breitengrade zum Christentum bekannten und dieses zu leben versuchten, als es heute der Fall ist. Dies steht nicht zur Debatte.

Jeder Mensch lebt nur einmal und auch jeder Christ lebt nur einmal. Die Christen der heutigen Welt müssen eben zur Kenntnis nehmen, daß sie in einer Welt leben, die an der Tatsache der Geburt des Erlösers vorbeigeht. Und die sich deshalb immer mehr in den Herrschaftsbereich des großen, alten, grantigen Mannes, des Weihnachtsmannes, eingliedert. Aber kein Christ darf vergessen, daß er in seiner Zeit die Aufgabe hat, die Lehre seines Herrn zu befolgen und durch sein Leben den Menschen zu beweisen. Das mag zu manchen Zeiten leichter sein und zu manchen Zeiten unendlich schwer. Vielen Christen wird dies heute fast unmöglich erscheinen. Und viele Christen werden deshalb kleinlaut werden. Und viele Christen werden deshalb heute eher geneigt sein, sich ebenfalls in den Dienst des grantigen, alten Mannes zu stellen als in den Dienst des Kindes, dessen Geburt in der Weihnachtsnacht gefeiert wird. Auch der heutige Christ kommt in die Versuchung, auf der Jagd nach Geschenken das eigentliche Christfest ganz zu vergessen. Auch er wird grantig und macht den Mitmenschen das Leben schwer. Er hört auf, Freude um sich zu verbreiten. Er wird nervös und abgespannt, so daß seine Nerven schlechte Antennen für die Sendung vom Weihnachtsfest werden.

Eine gereizte, hektische Atmosphäre liegt über allen Menschen. Alle Welt ist heute entsetzt über die Flugzeugentführungen, die Geiselmorde, die Erpressungen und Drohungen, die überall stattfinden. Aber nur wenige bedenken, daß diese nervöse, grantige, mit Nadelstichen gepeinigte Welt ein guter Nährboden, ja vielleicht eine der Voraussetzungen für diese Untaten ist.

Albrecht Dürer hat auf einem berühmten Stich den Weg des Ritters durch die Welt dargestellt. Es ist ein Ritt zwischen Tod und Teufel. Es ist der eigentliche Weg des Christen, der allzeit zwischen Tod und Teufel gehen muß. Der dabei oft gar nicht bemerkt, wo der Tod und wo der Teufel lauert. Die Gereiztheit, die Nervosität, die diese Jagd nach den weihnachtlichen Geschenken mit sich bringt, ist eine der großen Versuchungen der heutigen Zeit. So manche Christen bemerken nicht, daß auch sie dieser Versuchung erliegen. Daß sie eigentlich sich in den Dienst dieses grantigen, alten Mannes gestellt haben, der als letzter grand old man immer mehr seine Herrschaft auszudehnen vermag.

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