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Gütersloh oder Die Freiheit vom Zweck

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Rede anläßlich der Enthüllung einer Gedenktafel für A. P. Gütersloh in Baden bei Wien, Helenenstraße 100, am 30. Jänner 1977.

In diesem Hause hat ein Mann gelebt, der frei war. Hinter den Mauern steht sein Arbeitstisch, steht seine Staffelei, steht sein Bett. Er ist anwesend in diesen Gegenständen und er ist gegenwärtig in unserem Gedächtnis: als eine bildhafte, sich immer wieder verflüchtigende Erscheinung, aus der Wirklichkeit gleichsam zur bleibenden Existenz destilliert, jedoch der verzerrenden Willkür unserer Subjektivität und Vergeßlichkeit unterworfen. So bewegt sich sein Bild wie in einem Irrgarten, der sich zudem fortwährend verändert, gibt sich in dem Augenblick zu erkennen, verschließt sich im nächsten, erscheint in der einen Sekunde exemplarisch und wohl verständlich, in der anderen geheimnisvoll, kaum deutbar, in sich ver schlossen. Dieses launenhafte, lustvolle, arglos lächelnd betriebene, listig zu verblüffenden Erkenntnissen hinführende Versteckspiel ist ein Teü seiner Kunst, denn er wußte: nicht der gerade Weg ist dem nach Selbstausdruck suchenden Menschen angemessen, sondern der Umweg, das Paradoxon, das Labyrinth, kurz: Jeder muß das Gesetz seiner Existenz selbst dechiffrieren. So fuhrt uns seine über den Tod hinwegschwebende Gestalt letztlich zu uns selbst; er scheint uns zu narren, um uns dann mit einer Vision von besonderer Schärfe überraschend zu beschenken. Wenn wir ihm folgen, treten wir uns selbst entgegen.

Darin aber äußert sich die ungebrochen wirkende, von den Moden des Zeitalters nicht berührte, mit dem eigentlichen Wesen der Epoche aber tief und organisch - nämlich existentiell - verbundene Kraft seiner Freiheit

Die Lippen spitzte er, blickte empor, verwundert, und ließ dann die machtvolle Stimme tönen. Sie zitterte vor Freude. In den Augen glänzten Ironie und Selbstspott und dann, lichterloh, die Lust am Spiel. Er spielte Staunen, Hohn und herausfordernde Güte, umgab uns mit einer graziösen Herzlichkeit und war doch völlig aufrichtig, mit sich selbst identisch. Sein Spiel war lustig und verwegen: es öffnete alle Möglichkeiten der Verführung zur Exaltation. Es verpflichtet zur größten Genauigkeit. Nichts durfte verlorengehen, keine Schattierung einer Stimmung, kein Farbfleck, kein feingefügtes Wortgebilde. Durch Stimmungen, Farben, Worte wurde die Wirklichkeit in ihrer heftigen, widerspruchsvollen Vitalität gleichsam überrascht. Sie wurde durch Gestaltung überlistet.

Vielleicht sahen wir ihn immer maskiert: als einen Abenteurer von großer Kühnheit, der schmerzhafte, unfreiwillig komische Grimassen schneidet, um sein wirkliches Gesicht unter der grotesken Fratze zu verbergen. Er verstellte sich, um uns zu stellen. Er war ungezwungen, um uns zu bezwingen. Ein passionierter Spieler, frei, unbekümmert; arbeitsam bis zur letzten Grenze der menschlichen Kraft, ja fast darüber hinaus. Da saß er vor dem Tisch und ließ in seinen letzten Miniaturen eine heitere, geheimnisvolle, suggestive Vision entstehen. Sie ist von der zuversichtlichen Leichtigkeit des über alle Tragödien hinwegschreitenden, den letzten Sturz tänzerisch überwindenden Mozartschen Lebensgefühls wie von einem schönen Rausch erfüllt

Er kannte, lebte, liebte, artikulierte in Wort und Büd die größte, die einzig wirkliche Freiheit: die Freiheit vom Zweck. Darin entsprach er der paradoxen Beschaffenheit der menschlichen Natur. Denn nur der Sprung über die Grenze der Zweckmäßigkeit hinweg läßt uns in das Chaos unseres eigenen Wesens, unseres Milieus, unseres Zeitalters hinabstürzen, läßt uns dieses Chaos erleben, erleiden, begreifen und durchschauen, damit wir dann den Versuch unternehmen können, es durch Gestaltung zu ordnen, bewußt zu machen und zu überwinden. In diesem Versuch aber wurzelt jede künstlerische Erneuerung und hier liegt auch die eigentliche Chance und Verpflichtung der Kunst als eine bestimmende, durch das gesamte gesellschaftliche Kapülarsystem unmerklich, aber tausendfach wirkende Kraft der geschichtlichen Mobilität. Erst die Freiheit vom Zweck läßt eine Kunst entstehen, die sich humanisierend auswirkt, neue Erkenntnisse inspirieren und auch für das Leben der Ge-

Seilschaft sinnvoll und zweckmäßig erweisen kann.

Damit ist, glaube ich, die Richtung dieses lebenslangen Suchens, das innere Gesetz dieses Werkes’und das Geheimnis seiner Ausstrahlung ungefähr beschrieben. Wir fühlen das Strahlen dieser Sprachkunstwerke und dieser Wilder, wir erfahren ihr ununterbrochenes Wirken an den Arbeiten unserer Zeitgenossen und an uns selbst. Wir bleiben Ihre Schüler, Gütersloh, Ihre ehrfürchtigen Kumpane im abenteuerlichen Suchen nach der Metamorphose der Misere durch Kunst, wir bleiben Ihre Jünger, Ihre betroffenen, staunend in Ihrem großen Werk umherwandelnden Verehrer. Sie haben sich bloß versteckt, lieber Professor, hinter einer steifen Maske. Aber wir lassen Ihre Spuren nicht aus den Augen. Wir haben jetzt auch dieses Haus mit einer Gedenktafel als Ihr letztes Wohnhaus erkennbar gemacht: für uns und für alle Menschen, die sich erst im lichten Labyrinth Ihres Werkes wiederfinden können. Die Gedenktafel ist ein Zeichen: Seht nur, hier wohnte Albert Paris Gütersloh, der durch alle Wirren eines mörderischen Jahrhunderts hindurch Künstler blieb und frei.

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