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Hoffnung vor dem Kreuz

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Charles Péguy spricht vom „kleinen Mädchen Hoffnung“, das zwischen seinen großen Schwestern Glaube und Liebe geht, scheinbar von diesen gezogen, in Wirklichkeit aber sie ziehend. Vom Christenvolk kaum bemerkt. „Hoffnung sieht, was sein wird. In der Zeit und für alle Ewigkeit.“

Haben wir viel Anlaß zur Hoffnung? Was tut sich so um uns, wovon die Gazetten berichten? Wie soll man da noch hoffen? 500 Tote bei einem Flugzeugabsturz. Tausende bei einem Erdbeben. Oder eine alte Frau, die einem überraschten Einbrecher zum Opfer fällt. Was gibt’s da zu hoffen?

Da gibt es einen Staat, der seit bald dreißig Jahren existiert - seit dreißig Jahren im Kriegszustand. Eine Millionenstadt, die ebensolange abgeschlossen ist von ihrem Hinterland, eine Insel im roten Meer, ständig bedroht, von den Sturmwellen überflutet zu werden. Mit zwei Millionen Menschen, die darauf hoffen, daß es anders würde. In jenem Staat, der ebenso von Feindesland rings umschlossen ist, leben mehr als drei Millionen Menschen. Mit derselben Hoffnung. Und hier wie dort wenig konkrete Anzeichen, daß sich ihre Hoffnung erfüllen könnte.

Ist nicht die Hoffnung jene Triebkraft, die vor allen anderen jeder Bewegung zur Besserung innewohnt? Die Hoffnung eben, daß es besser würde? Wenn Auswanderer in früheren Zeiten die Heimat verließen, um in der Ferne ihr Glück zu versuchen? Wenn Sozialutopisten ihre Vorstellungen entwickelten und in Modelle formten? Wenn Widerstandskämpfer ihr Leben riskierten, um der Unterdrückung, der Fremdherrschaft ein Ende zu setzen? Hoffnung hielt sie fest, wenn die Schwierigkeiten zu groß zu werden drohten und Verzweiflung sich breit machte.

Manche dieser Hoffnungen ging auch in Erfüllung. Wieviel Hoffnungen aber wurden getäuscht? Die Hoffnungen jener Menschen etwa, die für ein freies Polen, ein freies Ungarn eingetreten waren und sich bald einer neuen Zwangsherrschaft gegenüber sahen. Oder der Menschen in Vietnam und Kambodscha, die nur auf das Kriegsende gehofft hatten …

Steht die Hoffnung nicht gerade dort vor ihrer Bewährungsprobe, wo die Wahrscheinlichkeit der Nichterfüllung groß ist? Die Hoffnung der Angehörigen bei einer schweren Erkrankung? Die durch ein Stoßgebet untermauerte Hoffnung auf Gelingen bei einem riskanten Überholmanöver? Sie muß getragen sein von der Bereitschaft zu sagen: Nicht mein, sondern Dein Wille geschehe …

Das „Prinzip Hoffnung“ ist Antrieb zu jeder Initiative, sagt Ernst Bloch. Eine Hoffnung aber, die nicht die Hände in den Schoß legt und wartet,

sondern die zum Einsatz ermuntert. Martin Luther King träumte davon, daß eines Tages in Georgia die Söhne früherer Sklavenhalter mit den Söhnen einstiger Sklaven am Tisch der Brüderlichkeit sitzen würden, daß der Staat Mississippi zu einer „Oase der Freiheit und Gerechtigkeit“ würde. Er setzte sein Lebenswerk in die Verwirklichung dieses Traums - bis zum Friedensnobelpreis und bis zum gewaltsamen Tod.

Es wird noch lange Zeit dauern, bis der Traum des Negerpastors Wirklichkeit geworden ist. Aber gibt es nicht doch hier und dort die «Andeutung eines Zeichens, daß nicht alle Hoffnung umsonst ist? Dreißig Jahre Krieg in Nahost - aber sind nicht die Äußerungen in letzter Zeit anders geworden? Lassen sie nicht einen Hoffnungsschimmer wachsen? Dreißig Jahre Konfrontation zwischen Ost und West - aber haben die Monate seit Helsinki nicht doch wenigstens die Hoffnungen jener Menschen erfüllt, denen die Ausreise aus ihren ungeliebten Systemen erlaubt wurde? Sicherlich noch zuwenig im Weltmaßstab - aber können Hoffnungen nur im Weltmaßstab gemessen werden?

Noch einen Ausspruch zum Thema „Hoffnung“: „Es trifft gewiß zu, daß die Hoffnung eine Gnade ist. Aber fraglos ist sie eine schwierige Gnade“, schreibt Siegfried Lenz. „Sie fordert zuweilen unsere Bereitschaft, auch im Scheitern eine Chance zu sehen, in der Niederlage eine neue Möglichkeit… Vielleicht ist die Hoffnung die letzte Weisheit der Narben.“

Die Anhänger jenes Jesus von Nazareth, der am Vorabend jenes Pessach- festes auf Golgotha hingerichtet wurde, hatten keine Hoffnung mehr. Ihr Meister war tot. Was sie erhofft hatten, war wohl nicht viel anderes, als was Widerstandskämpfer oder „Dissidenten“ zu allen Zeiten erhofft haben - die Befreiung von Fremdherrschaft. Damit war es aus. Erst jene zwei, die zwei Tage später nach Emmaus gingen, dann der engste Stab des Justifizierten - sie konnten wieder neue Hoffnung fassen. Aber nun auf ein neues Ziel, unter neuen Bedingungen.

Wir kennen das Ziel, das für uns hinter jeder Hoffnung stehen muß - auch hinter jeder letztlich unerfüllt bleibenden. Unsere Hoffnung hat zwei Dimensionen - jene, die uns hier zum Handeln auffordert, wo immer wir hingestellt sind; und jene, die uns absichert und die uns letzten Endes die Gewißheit gibt. Die Hoffnung vor dem Kreuz.

Wie schreibt Charles Péguy weiter? „Durch meine kleine Hoffnung allein wird es das alles geben, spricht Gott. Durch sie allein, wie sie allein in diesen irdischen Tagen aus einem alten Gestern ein neues Morgen entsprießen läßt.“

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