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„Holocaust in uns“ bleibt Frage

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Jetzt haben wir alle „Holocaust“ gesehen. Jetzt kann keiner mehr sich um ein persönliches Bekenntnis drücken. Hier ist auch eines:

„Holocaust“ war ein richtiger und notwendiger Film. Wenn Dokumente, Sachbücher und akademische Vorträge keine Wirkung erzielen, muß Hollywood einspringen.

Wer den „Kommerzcharakter“ des Filmes ablehnt, muß wissen, daß er damit allen jenen die Mauer macht, die seit 35 Jahren noch immer gierig nach Strohhalmen einer vermeintlichen Rechtfertigung greifen.

Wer „Kitsch“ und „Pathos“ beklagt, muß zur Kenntnis nehmen, daß Kitsch und Pathos auch im wirklichen Leben vorkommen - das Leben in Getto und Vernichtungslagern nicht ausgenommen.

Wer falsch angenähte Uniformknöpfe und Schulterklappen als Einwand bringt, muß sich in die Gruppe jener einreihen lassen, deren einzige Empörung darin zu bestehen scheint, daß man von sechs Millionen Judentoten redet, obwohl es „nur“ fünf gewesen seien.

Was allein zählt, ist die Antwort auf die Frage: War es so? Wird im Film übertrieben? Alle, die wissen, was wirklich gespielt worden ist, stimmen darin überein: Übertrieben wird nicht! Es war noch ärger!

Dann darf man aber auch nicht Schuld gegen Schuld aufrechnen: Dresden gegen Auschwitz, Katyn gegen Treblinka, die Mitschuld säumiger Alliierter gegen die Schuld der Massenmörder.

Es hat ohne Frage greulichste Blutverbrechen vor und nach Auschwitz gegeben. Das Einzigartige an „Holocaust“ war, daß es nicht ein „Betriebsunfall des Krieges“ war. Daß es in unser aller Mitte begann, sich fortfraß bis zur systematischen Ausrottung von Millionen Unschuldiger, die tags zuvor noch unsere Ärzte, Buchhändler, Nachbarn, Freunde gewesen waren.

Damit es nie wieder zu ähnlichem kommt, muß das Bewußtsein der Ungeheuerlichkeit in jedem von uns wachgehalten werden - bis zum letzten Atemzug. Eltern müssen sich von ihren Kindern befragen lassen. Die Kinder müssen fragen.

Es gibt keine Kollektivschuld. Das ist wahr. Aber es gibt viele Male tausend Einzelschulden, von denen 999 bestritten werden. Das ist auch wahr. Wenn 50 Millionen nicht weggeschaut hätten, wäre es 10.000 Verbrechern nicht möglich gewesen, sechs Millionen umzubringen.

Darüber muß weiterdiskutiert werden - auch wenn es weh tut, auch wenn neue Klüfte aufgerissen werden. Gewissenserforschung tut immer weh. Nicht ums Anklagen geht es, sondern ums Verhindern.

„Holocaust in uns“, von dem so viel jetzt die Rede ist, heißt: Wer immer eine totalitäre Ideologie vertritt, die alle Menschen in gute und böse, alte und neue, verblendete und aufgeklärte einteilt, und wer fanatisch Gehorsam ohne Gegenfrage verlangt, bereitet das Holocaust von morgen vor.

Ich glaube, einige mit Namen zu kennen, die bereit wären, bei entsprechender Emotionalisierung und Konditionierung morgen oder übermorgen „die Marxisten“ oder „die Pornographen“ oder „die Kapitalisten“ ins KZ stecken zu lassen. Ihnen ist ins Angesicht zu widerstehen: hier und heute, morgen und überall.

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