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„Ich bin ein gesunder Mann“

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An der Praxis, Systemkritiker und Dissidenten in der Sowjetunion einer psychiatrischen Untersuchung und Zwangseinweisung in Nervenkliniken zu, unterziehen, hat sich in der letzten Zeit nichts geändert. Offenbar liegt dem Regime aber neuerdings daran, diese Vorgänge mit einem diskreten Schleier zu umgeben. Um so bemerkenswerter ist das wörtliche Protokoll einer Unterhaltung zwischen einem Psychiater und einem Zwangsvorgeführten, dem Wissenschaftler Evgenij Nikolajev in Moskau, das im Westen bekannt wurde.

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An der Praxis, Systemkritiker und Dissidenten in der Sowjetunion einer psychiatrischen Untersuchung und Zwangseinweisung in Nervenkliniken zu, unterziehen, hat sich in der letzten Zeit nichts geändert. Offenbar liegt dem Regime aber neuerdings daran, diese Vorgänge mit einem diskreten Schleier zu umgeben. Um so bemerkenswerter ist das wörtliche Protokoll einer Unterhaltung zwischen einem Psychiater und einem Zwangsvorgeführten, dem Wissenschaftler Evgenij Nikolajev in Moskau, das im Westen bekannt wurde.

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D (Dmitrievskij): Weshalb sind Sie hier eingeliefert worden?

N (Nikolajev): Ich weiß es nicht. Ich habe niemals irgend jemandem etwas Böses getan! Die Psychiater haben meine Einweisung in einer Weise besorgt, daß sie mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf. Ich kenne den Grund nicht.

D: Könnte hier nicht ein Zusammenhang bestehen zu Ihren Bemerkungen?

N: Was für Bemerkungen?

D: Nun, zum Beispiel Bemerkungen über unsere Gesellschaft.

N: In offiziellen Organisationen habe ich niemals derlei Bemerkungen gemacht.

D: Und in inoffiziellen Organisationen?

N: Ich kenne ganz einfach keine inoffiziellen Organisationen ...

D: Ich nehme an, Sie wurden aus dem Komsomol ausgeschlossen.

N: Ich wurde nicht ausgeschlossen. Ich bin aus dem Komsomol ausgetreten.

D: Weshalb? Auf Grund Ihrer Ansichten?

N: Dies hat nichts mit Psychiatrie zu tun.

D: Nein, aber die Tatsache, daß Sie zum viertenmal in eine psychiatrische Klinik gebracht wurden. Schließlich wird nicht jeder, der aus dem Komsomol austritt, in eine psychiatrische Klinik eingeliefert.

N: Ich habe den Komsomol vor achtzehn Jahren verlassen. Das Thema ist nicht aktuell.

D: ... Was ist Ihr Beruf?

N: Ich bin Biologe.

D: Kennen Sie Fremdsprachen?

N: Einige.

D: Wo haben Sie gearbeitet?

N: Vier Jahre im Allunions-Institut für wissenschaftliche und technische Informationen und ein Jahr im Institut für Desinfektion ...

D: Was können Sie über unsere Gesellschaft sagen?

N: Falls Sie an dieser Frage interessiert sind, sollten Sie kompetentere Menschen als mich fragen. Nachdem ich meine (Univer-sitäts)Examen absolviert hatte, habe ich nie wieder die Unterrichtsbücher angesehen. Meine Bemerkungen würden deshalb bestenfalls ein „Ausreichend“ wert sein.

D: Mich interessiert nicht Ihre Kenntnis der Universitätskurse. Ich möchte Ihre Ansichten hören. Das Gesundheitsamt, das Sie hierher überwiesen hat, hat einen Anruf bezüglich Ihrer irrtümlichen Ansichten über unsere Gesellschaft bekommen.

N: Was immer meine Ansichten sein mögen, sie haben nichts mit Psychiatrie zu tun.

D: Wenn dies der Fall wäre, wären Sie nicht hier. Wenn Ihre Ansichten von der Gesellschaft nicht eine soziale Gefahr darstellten, wären Sie nicht hospitalisiert worden... Der Mechanismus un^-seres Staatsapparates ist Ihnen bekannt. Wir alle sind den entsprechenden Behörden untergeordnet, und wenn wir von diesen Behörden Instruktionen bekommen, sind wir verpflichtet, dieselben auszuführen.

N: Und deshalb interessieren Sie sich so für meine Ansichten über die Gesellschaft?

D: Ja. Aber Sie haben eine Art von Mauer zwischen uns errichtet. Und glauben Sie mir, daß das nicht zu Ihrem Vorteil ist. Je hartnäckiger Sie sich weigern, meine Fragen zu beantworten, desto länger werden Sie in der Klinik bleiben. Ich stelle diese Fragen in Ihrem eigenen Interesse. Sie werden bemerkt haben, daß ich keine Notizen mache.

N: Auch ich mache keine Notizen.

D: Überdies können Sie als sozial gefährlich eingestuft werden. In diesem Fall werden Sie im Zuge einer Präventivmaßnahme vor jedem sowjetischen Feiertag in eine psychiatrische Anstalt interniert, ob Sie es mögen oder nicht.

N: Ich bin mir darüber im klaren, daß eine solche Praxis in unserem Lande herrscht.

D: Bedenken Sie, daß Sie keine so wichtige Figur sind wie Solschenizyn. Er wurde wegen seiner Äußerungen und Ansichten des Landes verwiesen, Sie hingegen werden einfach in einer psychiatrischen Klinik interniert werden.

N: Ganz grundlos, da meine Ansichten keine soziale Gefahr bedeuten... Es ist völlig richtig, daß ich keine solche Popularität genieße wie Solschenizyn. Aber ich bin ziemlich bekannt unter denjenigen, die sich für Fremdsprachen interessieren. Und jede Hospitalisierung von mir kann nur den umgekehrten Effekt haben, da ich dann meine Kenntnisse und Fähigkeiten nicht der Gesellschaft zur Verfügung stellen kann, deren Schicksal Sie so sehr beunruhigt.

D: Also, endgültig: wo haben Sie Ihren unrichtigen Ansichten über unsere Gesellschaft Ausdruck gegeben?

N: Mir scheint, Sie holen sich die Antwort besser bei den Angestellten jener Behörde, die das Gesundheitsamt angerufen hat.

D: Das ist möglich. Aber ich würde die Antwort lieber aus erster Hand hören.

N: In diesem Fall ist die Pri-märquelle die Person, die mich denunziert hat. Ich weiß nicht, wer das getan hat, kann es nicht einmal erraten, da ich keine illoyalen Äußerungen gemacht habe.

D: Aber Sie sind hier. Demzufolge haben Sie doch solche Bemerkungen über unsere Gesellschaft gemacht. Und diese Ansichten bedeuten eine Gefahr für die Gesellschaft.

N: Sie irren sich. Sagen Sie mir: Sind in Ihrer Abteilung irgendwelche Klagen über mich geführt worden?

D: Nein. Es gab seitens des Personals keine Klagen. Ihr Verhalten ist tadellos.

N: Aber wenn ich wirklich gemeingefährlich wäre, wäre mein Benehmen nicht untadelig.

D: Nicht Ihr Verhalten ist gemeingefährlich, sondern Ihre Ansichten.

N: Das beweifle ich. Was immer meine Haltung gegenüber unserer Gesellschaft sein mag, diese Gesellschaft wird sich dadurch nicht ändern. Wenn ich sie verurteile, wird sie nicht schlechter werden, lobe ich sie, wird sie sich nicht bessern ...

D: Und was ziehen Sie vor: die Gesellschaft zu verdammen oder sie zu preisen?

N: Ich ziehe es vor, meinem Grundsatz treu zu bleiben, daß sie mich nichts angeht.

D: Diese Einstellung gegenüber der Gesellschaft repräsentiert auch eine soziale Gefahr. Wenn Sie fortfahren, dieserh Grundsatz zu folgen, werden Sie laufend in psychiatrischen Kliniken interniert werden.

N: Darüber bin ich mir im klaren. Ich habe das bereits absolviert. Wie lange gedenken Sie mich hier zu behalten?

D: Ich kann es Ihnen nicht sagen. Alles hängt von Ihnen ab. Sie werden nicht mit einem Monat davonkommen.

N: Ich bin schon drei Wochen hier.

D: Eine medizinische Kommission hat über Ihre Entlassung zu entscheiden. Wenn Sie fortfahren, allen kritischen Fragen auszuweichen, wird das — beim Zusammentreten der Kommission — nicht zu Ihrem Vorteil sein.

N: Meine früheren Erfahrungen haben mich das Gegenteil gelehrt. Als ich einem Arzt des 15. Psychiatrischen Krankenhauses meine Einstellung der Gesellschaft gegenüber auseinandersetzte, schickte er mich in das Stolbova-ja-Hospital, wo ich acht Monate verbracht habe. Daran sehen Sie, daß es gefährlich ist, seine Ansichten mitzuteilen. Und nun höre ich von Ihnen, daß es ebenfalls gefährlich ist, überhaupt nichts zu sagen. Offenbar muß ich das kleinere von zwei Übeln wählen.

D: Verstehen Sie mich richtig. Es gibt gute Gründe für meine Fragen.

N: Ich bin ein gesunder Mann und meine Ansichten haben nichts mit Psychiatrie zu tun.

D: Aber alle Ärzte, die Sie in den verschiedenen Kliniken behandelt haben, waren durch Ihre Ansichten beunruhigt — sie können sich doch nicht geirrt haben?

N: Möglich, daß sich die Ärzte nicht geirrt haben. Schließlich haben Sie selbst gesagt, daß Personen in offiziellen Stellungen den entsprechenden Behörden unterstehen und verpflichtet sind, deren Anweisungen auszuführen.

D: Wie sind die Beziehungen zu Ihrer Familie?

N: Das tut nichts zur Sache...

D: Wo und unter welchen Umständen haben Sie Ihre illoyalen Ansichten propagiert?

N: Nirgendwo. Und letztlich ist es einfach ein billiger Trick, Menschen ihrer Ansichten wegen in psychiatrischen Anstalten zu internieren. Es ist des Titels eines Arztes unwürdig.

D: Ich muß jetzt meine Runde machen, werde aber dieses Gespräch später fortsetzen. Ich habe Ihre Einstellung gegenüber der Gesellschaft zu ermitteln. Vermutlich werde ich Ihnen in Kürze eine andere Behandlung verordnen.

Quelle: „Chronik der Laufenden Ereignisse“ Nr. 11 (Unwesentlich gekürzt).

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