In Unna und um Unna herum

Kennen Sie Unna? Ich auch nicht. Aber ich habe mich informiert. Der Kreis Unna (542,25 Quadratkilometer, 375.688 Einwohner) begrenzt das Ruhrgebiet im Osten, umfaßt, einer Zange vergleichbar, das Stadtgebiet von Dortmund; die größte Stadt ist Lünen, die älteste Schwerte, die Kreisstadt natürlich Unna. Warum dies hier? Weil ich dieser Tage eine dicke Mappe auf den Tisch bekam: „Projekt UN 78“ - und dabei, klarer Fall, an ein Projekt der Vereinten Nationen dachte (und auch denken sollte, diese Schlaumeier). Das „Projekt“ hat einen Untertitel: „Kultur der Erinnerung“, und der Untertitel hat wieder einen: „Kunst, Musik, Literatur, Theater und Filme der 70er Jahre“, und das Ganze ist ein „neues Kulturfestival“. Ach du lieber Gott, nun auch schon in Unna und dann so großkariert: „... durch Nebeneinander und Konfrontation übergreifende Tendenzen der Entwicklung sichtbar zu machen“, oder (zu einer Fotoausstellung): „Zeitlichkeit... einmal als konkrete Ereignisform in Be-

zug zur Architektur, das andere Mal als in der Architektur angelegtes Potential der Erscheinung“, und „UN 78“ und überhaupt. Dachte ich und blätterte dann doch in dem Papierberg.

Und fand Namen, die mir etwas sagten. Und las Texte, die genau am Gegenstand blieben und das als „Kultur der Erinnerung“ angezeigte Phänomen in den einzelnen Sparten treffend beschrieben: den Rückzug ins Private, aus dem womöglich die Kraft wächst, mit dem ins Lot gebrachten Ich das Wir anzupeilen, also gesellschaftlich und politisch zu wirken. Musik: ein Kammerkonzert des Westdeutschen Rundfunks- mit dem Wiener „Ensemble 20. Jahrhundert“ unter Peter Burwik bringt in Kamen (sehenswert: Schiefer Turm, Heimatmuseum) die neuen Spontanen oder neuen Innerlichen, für die Serielle Musik eine Sache von vorgestern ist. „Beethoven geht vorüber“ und Shelley erscheint - durch den Österreicher Gerhard Rühm als Medium - im Alten Rathaus zu Werne.

Kogel kommt vor und Oswald von Wolkenstein und Walther von der Vogelweide, Hedkultur des Mittelalters vorgestellt von Michael Korth und Johannes Heimrath aus Salzburg; ich lese, daß es eine Stadt Holzwickede gibt. Von Jazz und Folk-Rock und Soul-Jazz rede ich hier gar nicht.

Namen: Sarah Kirsch („liest aus ihren Werken“); der gescheite Jörg Drews (spricht nicht über Arno Schmidt, sondern über „Die Entwicklung der deutschen Lyrik seit 1968“); W. Martin Lüdke (der, in einem edition-suhr-kamp-Band, vorhandene Ansätze zu einer „Theorie der Avantgarde“ kritisiert und weitergedacht hat) informiert über „Einige Tendenzen der neueren Literatur“. Es gibt, im Schauspiel, „Ella“ von Achternbusch und „Sehnsucht“ von Gerhard Roth (als Gastspiele aus Stuttgart und Graz) zu sehen, es gibt Filme, zum Beispiel von Werner Herzog, Herbert Achternbusch, Wim Wenders, Hans-Jürgen Syberberg, Hans Christof Stemel, Rainer-Werner Fassbinder nicht zu vergessen - für „Cineasten auch abseits der Metropolen“, und es gibt vieles andere im Abseits. Servus Unna.

Zeitungsgerecht mitgeteilt das alles: 1 Manuskriptzeile=2 Druckzeilen zu je 30 Anschlägen, Abdruck honorarfrei, Belegexemplar erbeten. Was heißt hier Avantgarde und neuere Literatur und Cineasten! Kultur ist für alle da, keine Frage. Und die geschrieben haben für die dicke Mappe, die verstehen was davon; das sind Professionalisten, nicht Leute aus Schwerte und Kamen und Werne und Holzwickede. Doch im Vertrauen, wessen Problem ist es, „den Themenaspekt Erinnerung' als dialektisches Gegenstück zur Utopie“ aufzufassen? Gehört (zugegeben: ein zynischer Gedanke) der Kreis Unna als Schauplatz mit zum Thema, das, indem es (Sparten übergreifend) vorgestellt wird, auch sich darstellt am östlichen Rande des Ruhrgebiets?

Ich wollte gewiß keine Glosse schreiben. Ich finde das Ganze wirklich großartig; vielleicht ist es sogar ein Modell... Die Glosse schrieb „sich selber“. So steht es um unsere Kultur: Der Fortschritt ist manchmal ein Hohn. Und das meinte „UN 78“ ja wohl auch.