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Kettenreaktionen

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Im Nachwort zu dem Dramenband „Geist und Macht“ (Wien 1973) bekennt Zwillinger sich zu der Aufgabe seiner Dichtung, „anderen leben zu helfen“. Seine unveröffentlichte, noch wachsende Selbstdarstellung in Prosa will diese Leistung vollbringen durch die „Rechtfertigung meines tätigen, schaffenden und kämpferischen Lebens in aufgewühlter Welt“, eines Lebens, das aus „pränatalen Ursprüngen“ als der „Rückseite“ und dem „figuralen Gewebe“ des Lebensganges ein Ganzes ist.

Der Flüchtling von 1938, zu Kriegsbeginn in Indochina „als Deutscher und Jude gefangen“, wie eine der Balladen des „Magischen Tanzes“ (1960) es sagt, in Villon und Marlowe sein eigenes Leben mitgestaltend, baut dort in den folgenden Jahren ein Industriewerk auf, erlebt 1945 die Vernichtung, wird im Widerstand gegen die Japaner schwer verwundet und kehrt einbeinig nach Europa zurück. In Paris gründet er eine neue Existenz, kehrt heim in die früh gepflegte, nie vergessene Dichtung, die in der Kindheitsvision einer reinen Welt unter hellem Himmel ihr Leitbild hat.

Der Versuch, das Dasein zu bewältigen, führt ihn zum Drama: „Maharal“ (Prag zur Zeit Rudolfs II.), „Galileo Galilei“, „Ar- chimedes“, „Kettenreaktion“: Alte und modernste Möglichkeiten der Mysterienbühne nützend, zeigt er den Golem, den Brennspiegel, die Atomspaltung im Dienste des Krieges. Geist, der Macht erstrebt, kann nicht rein bleiben. Galilei, der sich beugt, abschwört und weiter wirkt, dient im Untergang seines Ich dem Selbst und dem Geist.

Aber das große Zeugnis dieses Dichters und das Panorama seiner geistigen Entwicklung ist die dreibändige Gedichtausgabe Wien 1963 — Gedichte seit 1926 in zeitlicher Gruppierung — mit den beiden noch ungedruckten Bänden „Entzifferung“ (1963—1973) und „Ortung, kosmische texte“ (1973—1974).

Das Vorwort des ersten Bandes der Gedichte enthält die strenge Forderung Zwillingers an sich selbst, Originalität nun nicht mehr „innerhalb der Normen dichterischer Überlieferung zu suchen“, sondern der „völlig veränderten wenn nicht gar entstellten Wirklichkeit mit subtil abgewandelten Kunstmitteln einer zertrümmerten Epoche gerecht zu werden.“ Diese Forderung kommt nicht von außen, sie ist Erkenntnis und auch schon Rechtfertigung des 1963 längst begangenen Weges.

Storm und das Volkslied, der Rilke besonders des „Stundenbuchs“ — das Wort erscheint in dem Gedicht „Freudlos“ —, Weinheber, das Pathos dessen, der die tragende Kraft seines dichterischen Wortes erlebt, die Liebe zu kostbarem Klang und Rhythmus — das ist die Spannweite des dichterischen Werkes bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges, und schon hier denkt der Leser: Welch eine Verschwendung, begibt sich in unserer Welt, daß solches zwar entsteht, aber aus vielerlei Gründen fast nicht gehört wird. — Die Spätphase von Werfel und Weinheber erscheint als Parallele zu den kommenden Versen, bevor die Neigung zum großen Rhythmus, zum Spruch, zur Struktur die Klänge verdrängt Das Bewußtsein von Vereinsamung und umgebender Leere, die späte Erfüllung der Liebe bestimmen die Gedichte der frühen fünfziger Jahre. Dann verläßt die Dichtung die Außenwelt, gewinnt Form aus den Worten selbst und aus ihrer Wiederholung, erlebt noch „im Zentrum der

Choreographie, dem vormals beseelten, die wachsende Leere“ (III, 122).

Es bleibt die einst so schmerzvoll getragene Bindung an die Ahnen in den Gedichten des letzten Jahrzehnts, aber aller Wohlklang ist fern, die Erkenntnis dunkel, der Wille hart in illusionsloser Hoffnung, der Dichter schaut aus Fernen auf sich selbst („Am Ende“), das Ich wird Hohlraum dem einströmenden All, Scheite sind wir „für den Brand unserer Marter“ („Entzauberung“). Im letzten Manuskript „Ortung" fallen alle Satzzeichen und Großbuchstaben, der Vers als Wort und Wortgruppe spricht ohne Hilfen, aber vollkommen klar. Aller Stoff bröckelt ab, es bleiben Kugelsegment, Kurven, Photonen. Das Ich ist „brenn- punkt spiegei bewußtsein/dar- in das all sich erfährt/weitergibt/ aufhebt in nichts“.

Und doch ist dieses Eingangsgedicht „ich und all“ kein volles „nein“. Es gibt nun das All preis, aber es bewahrt den Menschen als Geist und Bewußtsein in der Bindung an seine Ahnen, Zukunft als Andauer der Vergangenheit.

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