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Kirche kontra Höchstrichter

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Mit einigen Ausritten gegen die Kirche im Zusammenhang mit Euthanasie und Abtreibung hat Deutschlands höchster Verfassungsrichter einen heftigen Konflikt ausgelöst.

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Mit einigen Ausritten gegen die Kirche im Zusammenhang mit Euthanasie und Abtreibung hat Deutschlands höchster Verfassungsrichter einen heftigen Konflikt ausgelöst.

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Seltenheitswert kennzeichnet jenen Entrüstungssturm, der dem Präsidenten des deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVG), Wolf gang Zeidler, aus allen kirch-lichen,“aber auch aus unterschiedlichen politischen Lagern ins Gesicht bläst. Und dies trotz aufziehender Bundeswahlkampf-Stim-mung, die eher zu Waffengeklirr zwischen Union und SPD verleiten könnte. Letzteres besonders dann, wenn es um Themen wie Abtreibung und Tötung auf Verlangen geht. Gibt es doch hier unter den Bundesbürgern genug Gegensätze, die sich in Politparolen gießen lassen.

Aber Zeidler hat den Bogen für beide Seiten dieser Front überspannt, mit polemischem Haraki-

ri, das sich ein oberster Verfassungsrichter nicht ungestraft öffentlich leisten darf: Bei den jüngsten „Bitburger Gesprächen“, einer Zusammenkunft hochrangiger Juristen, hatte der BVG-Präsident das im Strafgesetzparagraphen 216 festgeschriebene Verbot der Tötung auf Verlangen als eine „Insel der Inhumanität in der Folge kirchlichen Einflusses auf unsere Rechtsordnung“ abqualifiziert.

Damit nicht genug. Zeidlers provokant formulierte Darstellung der befruchteten menschlichen Eizelle als „himbeerähnliches Gebilde“ und als „wuchernde Substanz der ersten Stunden“ — alles inmitten eines Klimas, das durch den öffentlichen Abtreibungs-Diskurs aufgeheizt ist — zeugt zumindest von verblüffender Instinktlosigkeit.

Als erster zog der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Joseph Höffner, gegen die Ungeheuerlichkeit zu Felde, die man einem Biertisch-Nörgler als Entgleisung nachsehen mag, nicht aber einem der höchsten Repräsentanten der Staatsgewalt. Der Kardinal verurteilte Zeidlers Position ausdrücklich als verfassungswidrig und forderte „Konsequenzen“ -im Klartext: Zeidlers Rücktritt. Das Verbot der Tötung auf Verlangen, so Höffner, beweise die Achtung vor menschlicher Würde

und bewahre den Sterbenden vor der Verfügbarkeit durch Dritte.

Dies bedeutet gewiß keine grundlegend neue Einstellung der Kirche zum Leben. Seit jeher vertritt sie den Standpunkt, daß es zwischen dem Sterbenlassen und dem aktiven Herbeiführen des Todes keinen fließenden Ubergang gibt. Neu indes wird die Dimension dieser Auseinandersetzung. Denn noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hat sich ein Präsident des höchsten Gerichts über die eindeutigen Aussagen jener obersten Instanz hinweggesetzt, deren Hüter er selbst ist.

Noch nie hat es ein Mann in diesem Amt, wie jetzt Zeidler, als „Fortschritt“ gepriesen, daß „das Religiöse in den letzten Jahren aus der Rechtsordnung verdrängt wurde“. Und noch nie zuvor hat ein Kardinal dem ersten Richter dieses Staates in aller Öffentlichkeit „bemerkenswerte Ignoranz“ vorgeworfen.

Die breite Gefolgschaft, die Höffner in diesem Grabenkrieg um menschliche Grundwerte findet, stellt in deutschen Landen ein Novum dar. Konnte man es noch als natürlichen Flankenschutz auffassen, daß der evangelische Landesbischof in Bayern, Johannes Hanselmann, bei einem ökumenischen Gottesdienst im katholischen Münchener Liebfrauendom Zeidlers Einstellung als „unglaublichen Schlag ins Gesicht der Christen“ zurückwies, so läßt es doch aufhorchen, daß jetzt die Zahl der prominenten Gegner einer aktiven Sterbehilfe für Todkranke auch bei solchen Sozialdemokraten spürbar wächst, die sich sonst „fortschrittlich“ geben.

Die Strafbarkeit müsse auch dann gelten, wenn ein Kranker physisch oder psychisch außerstande sei, den gewünschten Tod durch Selbstmord herbeizuführen, erklärten jetzt der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Alfred Em-merlich, und der Obmann des SPD-Rechtsausschüsses im Deutschen Bundestag, Hans de With, in einer offiziellen Stellungnahme.

Noch mehr politisches, aber auch moralisches Gewicht kommt dem empörten Statement des früheren SPD-Bundesjustizmini-sters Jürgen Schmude zu, der als amtierender Vorsitzender der Synode der Evangelischen Kirche jede aktive, lebensverkürzende Tätigkeit eines Arztes als „absolut unannehmbar“ apostrophiert. Schmude, nach dem Bonner Regierungswechsel weiterhin SPD-Bundestagsabgeordneter, billigt Zeidler zwar grundsätzlich das Recht zu, auch als oberster Verfassungsrichter die Kirche zu kritisieren; unberechtigt dagegen sei

der Vorwurf, die Glaubensgemeinschaften übten zu starken Einfluß auf die Rechtsordnung aus.

Ob der 61jährige Bundesverfas-sungsgerichts-Präsident, der selbst der SPD angehört und dessen Amtszeit satzungsgemäß bis 1987 dauert, mit seiner Gegenattacke gut beraten ist, bleibt mehr als zweifelhaft: Unbeeindruckt von den bohrenden Fragen aus allen Altersschichten nach den ethischen Grundlagen in der Bundesrepublik — eine Diskussion, die längst über Kirchenkreise hinausreicht — beharrte der BVG-Präsident nun in einem Rundfunkinterview auf dem Argument, die Rechtsordnung sei eben „säkular“ und die Gesetze des weltlichen Rechts würden „nicht von der Kirche verfaßt, sondern sind vom weltlichen, vom irdischen Gesetzgeber zu verantworten“.

Freilich verschwieg der Chef Jurist, daß schon die vorchristliche Ethik als philosophische Disziplin stets von der Existenz der Würde des Menschen ausgegangen ist. Ein Grundsatz übrigens, der auch die so viel bemühten „Väter des Grundgesetzes“ in der Bundesrepublik bewogen hat, angesichts der menschenverachtenden Diktaturen in Europa jene Wertordnung zu schaffen, die das menschliche Ethos in den Mittelpunkt stellt.

Kein Denkverbot

Gedanklich sparsam erscheint darüber hinaus Zeidlers Vorwärtsverteidigung, Bundesverfassungsgerichts-Urteile, wie jenes zur Abtreibung, bedeuteten zwar bindende Entscheidungen, jedoch „niemals ein Denkverbot“.

Doch selbst wenn es einen seriöseren Anlaß für die von Wolfgang Zeidler geschaffene Szene gäbe: Hätte man die Auseinandersetzung nicht mit mehr Weisheit führen müssen, anstatt — zwischen Hackethal'schen Selbstmord-Cocktails und 200.000 Abtreibungen in Deutschland pro Jahr — Fensterreden zu halten?

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