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Kritikwürdiges J ahrhunder t werk
Uns beizubringen, „klüger für ein andermal zu sein“, ist in der Tat ein Ziel, ob dessen man sich (wie gemäß Zitat auch Rudolf Kirchschläger) über bedeutende Geschichtswerke freuen muß. Die zweibändige Geschichte der Ersten Republik, knapp elf Jahre nach jener der Zweiten eben erschienen, ist ein solches Jahrhundertwerk.
Sieben Autoren von damals schrieben auch diesmal mit. Der besondere Vorzug der Darstellung liegt nicht zuletzt in eigenen Kapiteln nicht nur über die Sondergeschichte eines jeden Bundeslandes, sondern auch über Schulpolitik, Erwachsenenbil-
dung, Literatur, Musik, Architektur, Malerei, Massenmedien, auch des KinOę und — gerade in Österreich auch politisch wichtig — der Turn- und Sportvereine.
In Band I ragen unter anderen die Beiträge über Österreichs Außenpolitik (Stephan Verosta) und über die Wirtschaftsentwicklung (Hans Kernbauer, Eduard März, Fritz Weber) sowie, der Originalität wegen, das über die Bürokratie (Walter Goldinger verteidigt sie) heraus.
Freilich lassen sich auch kritische Beobachtungen nicht unterdrücken. So fehlen trotz Mehrfacherwähnung und zahlreicher Überschneidungen wirklich solide Sachverhaltsdarstellungen zu historischen Schlüsseldaten wie 15. Juli 1927 (am ehesten noch auf Seite 778 unter Burgenland), 4. März 1933 und vor allem — und wirklich unentschuldbar — zum Februar-Bürgerkrieg 1934. Jeder Autor dachte offenbar, darüber referiere ein anderer genauer und man könne die Kenntnis voraussetzen.
Es fällt auch auf, daß über die linken Parteien linke Autoren, über das „nationale Lager“ ein aus diesem kommender Wissenschafter und über die Christlichsoziale Partei — auch ein Linker schreibt.
Gewiß: Alle tun es mit Niveau und ohne sich primitive Blößen zu geben - aber es geht halt doch um Hintergrund, Flair, Grundstimmung, ein bißchen Herz.
Rudolf Neck, kritisch gegenüber der Sozialdemokratie im Zusammenhang mit Justizpalastbrand und Selbstausschaltung des Parlaments, setzt immerhin Sozialdemokratie praktisch mit „Arbeiterbewegung“ gleich (S. 225) und läßt sie gegen „unterschiedliche faschistische Kräfte“ (S. 243) kämpfen, obwohl Gerhard Jagschitz in seinem sehr soliden Ständestaat-Kapitel ausführlich belegt, warum es „unangebracht“ ist, von einer primitiven Faschismustheorie auszugehen (S. 498 f.).
Der Beitrag der christlichen Sozialreformer zum Sozialgesetzwerk der Hanusch-Ära wird von Neck wie von Anton Staudinger eher gönnerhaft nur knapp akzeptiert. Natürlich liest man bei Staudinger, daß Leopold Kun- schak 1920 die Internierung „der Juden in „Konzentrationslagern“ vorschlug, aber kein Wort über die historische Demokratierede Kunschaks vom 9. Februar 1934.
^ Kein Wort auch in dem ganzen 1130-Seiten-öpus vom Koalitionsangebot Seipels an die Sozialdemokraten vom 19. Juni 1931 (wo gegen auf S. 116 irrtümlich auch die Deutschnationalen als Partner der rotschwarzen Koalition 1919/20 genannt werden).
Keiner der politischen Autoren versucht eine halbwegs umfassende Würdigung der Zentralfiguren Seipel, Renner, Bauer — am ehesten wird Seipel noch das sehr informative Kapitel „Kirche und Politik“ (Erika Weinzierl) gerecht. Bemerkenswert auch die praktisch unkritische Anpreisung der Glöckelschen Schulreform durch Richard Olechowski.
So manche Akzentsetzung rückt Kurt Skalnik in angemessene Perspektive: Man hätte sich seine Einleitung länger gewünscht. Und zum Schluß wenigstens ein paar Minimalinformationen über die 39 Autoren!
ÖSTERREICH 1918-1938. Hrsg. Erika Weinzierl, Kurt Skalnik. Styria, Graz-Wien- Köln 1983. Ln., öS 1400.-.
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