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Lächle, Bajazzo

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Wahltag in der Demokratie ist der große Tag des wählenden Wil- lens, der sich hierauf in langen Jahren des zulassenden Willens verdünnt, verflacht, ja völlig ver- flüchtigt. Deshalb bedarf es nach abgelaufener Legislaturperiode immer einer beträchtlichen An- strengung und einer runden Sum- me Geldes, um diesen ermüdet zu-

lassenden Willen des Wahlvolkes wiederum in einen energisch wäh- lenden Willen zu verwandeln...

Dieses Verdichten von Willens- energie, die sich im Alltag von Stun- de zu Stunde verzettelt, nunmehr auf einem Wahlzettel zur Entschei- dung zu bringen, um ein Kreuzes- zeichen zu setzen, nennt man Wahl- kampf. Daß auch noch in einem lai- zistischen Staat wie Österreich unter dem Zeichen des Kreuzes die „Vorsehung" für die nächsten Jah- re angerufen wird, darf das als eine „Zufälligkeit" abgetan werden?

Mag auch die Vorsehung zu jenen Wörtern gehören, die man heute nur selten und schwer über die Lippen bringt, im Herzen aller bewahrt sie doch einen geheimen Platz. Wer die Sache unvoreinge- nommen ansieht, wird zugeben, daß dem Mehrheitsprinzip keine Wis- senschaft zugrunde liegt, sondern ein Glaube: Die Mehrzahl ist die Vorsehung der Demokratie.

Klingt das zu romantisch? Eine neue Romantik ist vor unser aller Augen über die Politik hereinge- brochen. Was im 19. Jahrhundert Anliegen und Vorrecht der Kunst gewesen ist, Ehrfurcht vor der Natur, Liebe zu all ihren Erschei- nungsformen, wie sie sich in der europäischen Landschaftsmalerei ausdrückt, das ist jetzt in die Wahl- plakate eingedrungen. Bäume ver- bürgen die Qualität eines neuen Denkens.

Wir können hierbei nur hoffen, daß in diesem Symbolbaum nicht eine Schlange verborgen zischelt. Dann würde das ganze Plakat nur auf eine neue Metapher für das Erkenntnisobst hinauslaufen, des- sentwegen Adam und Eva aus dem Wohlstandsparadies vertrieben worden sind.

Jedenfalls führt uns ein solches Plakat mitten hinein in die uralte Problematik von Geist und Natur, denn Angelpunkt der Demokratie ist und bleibt die Wahl als Akt der Freiheit. Gibt es aber eine solche freie Wahl im Naturreich? Auch für die Neo-Darwinisten eine heikle Frage! Für die unsägliche Schön- heit einer Pfauenfeder als Ergebnis der Selektion müssen sie entweder den hellsichtigen Schönheitssinn eines Weibchens oder dessen Trieb- verblendung verantwortlich ma- chen: Wahl oder Bestechung?

Deshalb hat die amerikanische Wahlpropaganda schon längst er- faßt, daß Friedrich Schillers Satz

von Hunger undLiebeals Antriebs- kraft im Weltgetriebe eingesetzt werden müsse, will man seiner Partei die notwendigen Stimmen verschaffen.

Man kommt also nicht um die Absurdität herum, daß sich der fun- damentale Vitalismus des Trieb- zwanges als der wirksamste Vor- spann erweist, um bei den angeb- lich freien Wahlen die Entschei- dung zu beeinflussen. Es ist nicht genug zu loben, daß Österreichs Parteien andere Wege zu gehen versuchen und hierbei der Entschei- dungshilfe zweifellos näher kom- men als der Entscheidungsmani- pulation.

Das schwierigste Dilemma unse- rer Demokratie besteht ja in der Differenz zwischen der allgemei- nen Einsicht in das sittliche Sollen und dem weit dahinter zurückblei- benden sittlichen Können. Um die- sen in der letzten Zeit allzu offen- kundig gewordenen Zwiespalt zu überwinden, verspricht man auf den Plakaten, die verschiedenen Ein- richtungen des politischen Lebens schärfer zu kontrollieren. Kontrol- le ist also besser als Vertrauen, das man bisher entgegengebracht hat. Den Vertrauensgrundsatz muß man den Autofahrern überlassen...

Wie aber werden diese Scharf- macherf orderungen von den Politi-

kern vorgebracht? Immer mit ei- nem verbindlichen Lächeln. Das Lächeln, die zum Vertrauen ermun- ternde Einladung, ist eines der wichtigsten Wahl- und Werbere- zepte in der Ländschaft der Politi- kerphysiognomien.

Vertrauen, auf griechisch „PI- STIS", ist aber der zentrale Begriff der paulinischen Verkündigung und wird - immer wieder angefochten - auch als „Glaube" eingedeutscht.

Aber wo kämen wir hin, wollten wir jetzt bei der Meditation über die Porträtgalerie, die sich uns auf der Ringstraße anbietet, mit unse- rer neuerdings beschworenen Na- turbezogenheit Ernst machen und dem Lächeln auf den Grund gehen, das heißt, seine"natürlichen Vor- formen ins Bewußtsein rufen, nämlich das bedrohliche Zähneflet- schen, aus dem es in einem langen evolutionistischen Prozeß bei den Primattieren hervorgegangen ist. Einige Politiker haben diese artge- schichtlich viele Jahrtausende be- anspruchende Wandlung vom Zäh- nefletschen ins Lächeln in kurzer Zeit phylogenetisch aufgearbeitet.

Manche sind sogar fähig, vom einen ins andere blitzschnell um- zuschalten, eine Geschicklichkeit, die vielleicht unerläßlich ist, sollen mediale Breitenwirkungen erzielt werden: Lächle, Bajazzo.

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