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Lichtungen im Neuschnee

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Wie viele tausend zierlichster Sternchen ein winziges Schneekristall enthält, hat die mikroskopische Forschung gezeigt; welche Unsummen davon erst eine zarte Schneeflocke bilden, bedenkt keiner, der dieses Wunder lautlos vom Himmel sinken sieht — alles dämpfend, auch die Herzen zur Ruhe bettend. Es würde aber schon genügen, sich des entzückten Ausrufs eines kleinen Afrikaners zu erinnern, der auf einer Europareise den ersten Schnee sah und ihn als das erlebte, was er ist: ein Sternenfall.

Uns freilich ist der Schnee zur Piste geworden, aber auch diese Rutschbahnen sind, ganz im Anfang, frohe Schneelandschaften gewesen, sind es jeden Winter mehrmals wieder, ehe sie präpariert werden. Wer der Natur nahe sein will, wer das Schöne liebt, der wird die unberührten Wege suchen, die ihn vom frohen allgemeinen Treiben wegführen zu einer nur ihm gehörenden Einsamkeit. Er wird die altertümlichen Seehunde, diese langen Bretter, aus dem Stall ziehen, Proviant in den Beutel tun, Vegetarisches nicht zu vergessen, soweit es in einen geistigen Zustand übergegangen ist, alsa Wacholder und Enzian, und sich nun im Lande umsehen, wo er die Entzückungen der Einsamkeit zu finden vermag. Gibt's denn noch so etwas?

Lassen wir den Blick ein wenig über Land schweifen - ob wohl irgendwo noch natürliche Stille zu finden sei? Das liebe alte Weihnachtsland, wo die „Stille Nacht“ geboren wurde, es müßte doch um die Winterszeit seine Ruhe wiedergefunden haben? Nirgends ist der Schnee so weich, so sehr behaust wie hier. Ohne Anmarsch ist's nicht zu machen, ohne Mühe kommt der Mensch zu keinem Preis. Im Gebirge oder hinter den Wäldern hat sich der Schnee zu dörflicher Einsamkeit herabgelassen in buchstäblichem Sinn, und wer-die hellen Scheiben am

Winterabend liebt, der wird in Berge ziehen, wo keiner mehr wedelt; dort findet er das köstliche Geheimnis, das die laute Welt nicht kennt: Lichtungen und Hänge, die demjenigen offenstehen, der kleine Opfer an Bequemlichkeit bringen will, um sich, betreten von der lärmenden Schönheit der Welt, dem schweigenden Pathos der Stille auszuliefern.

Er findet Schnee in seiner ursprünglichen Form, flockige Wunderbauten im zartesten Weiß, hochtragende Fichten in Hermelin, von denen schnell einmal eine die Hand aus dem weißen Ärmel zieht, um dem seligen Wanderer entgegenzuwinken. Ja, denkt er, wie die Kartoffel doch am besten schmeckt, wenn sie das brutzelnde Fett eines rosa Ferkelchens vorher passiert hat, so ist der Regen am herrlichsten nach der Verwandlung, die ihm der sonst so gar nicht lyrische General Winter verliehen hat wie einen strahlenden Orden. Artig läutet's im Gebüsch, im roten Sonnenschleier lockt ein Birkenmädchen.

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