7027829-1989_18_10.jpg
Digital In Arbeit

Lippenpflöcke, Krüppelfuß

Werbung
Werbung
Werbung

Künstliche Körperdeformationen haben zumeist magische oder rituelle Gründe, die zu einer Veränderung der natürlichen Form einzelner Teile des menschlichen Körpers führen. Es sind dies die Zeugnisse für das Streben vieler Menschen, sich vor den anderen auszuzeichnen, um einem bestimmten Schönheitsideal oder einer Mode nachzukommen. Es handelt sich dabei um künstliche Eingriffe blutiger und unblutiger Art, um die natürliche Form einzelner Körperteile zu verändern.

Ohrläppchen. Nasenflügel und Nasenscheidewand, Lippen und Kinn werden durchbohrt, um Schmuckstücke anzubringen, Finger und Füße werden verstümmelt, Zähne gefeilt, plom-

biert, zugespitzt oder ausgeschlagen. Das Schwärzen der Zähne ist ein häufig als Pubertätsritus oder als ein unmittelbar vor oder nach der Hochzeit geübter Brauch in Hinterindien und Indonesien, bei den Telugu-Frauen in Indien, in Japan, auf dem Bismarckarchipel und auf Yap (Mikronesien).

Zahneinlagen (Inkrustationen) von Gold, Messing, Perlmutter-plättchen in eigens hergestellten Vertiefungen, ein Uberziehen einzelner Zähne oder ganzer Zahnreihen mit Goldblech trifft oder traf man in Südostasien an, im alten Mexiko oder in Ekuador in Form eingelegter Türkis- und Gold-scheibchen, sowie Jadeit- und Hämatiteinlagen. Weit verbreitet smd auch Tatauierungen (Tätowierungen) und Ziernarben sowie das Bemalen mit Kalk, Ruß und Lehm, mit Ocker, Rötel und Rotholz und das Bepudern. Lippen werden geschminkt, Nägel und Augenbrauen bemalt.

Taille, Hals, Arme und Beine werden eingeschnürt und eingezwängt. Das Prinzip der drückenden und zwängenden Miederleibchen der weiblichen Oberkörperbekleidung erhielt sich schließlich in Europa vom Mittelalter bis ins erste Viertel des 20. Jahrhunderts. Miederleibchen aus Perlenschnüren (Muscheln, Straußenei-und Eisenperlen) waren einst bei den Hererofrauen in Südafrika wahre Ungetüme einer Kleidung; weitaus gefälliger, aber trotzdem beengend sind die Rotang- oder auch Messingspiralen um die Hüften der Dayakfrauen auf Borneo.

Litten schon Unterarme und Waden unter der schweren Last des Messingdrahtes, mußte man sich obendrein noch einen bis zu 25 Windungen umfassenden Hals-

kragen aus Messingdrahtspiralen gefallen lassen, um als schön zu gelten. Eine Dehnung des Halses war die Folge.

Selbst der Schädel erfuhr seine Veränderung. Der noch kindliche Kopf wurde durch Bandagen, Einschnürungen oder aufgeschnallte Brettchen geformt, um dem herrschenden Schönheitsideal zu entsprechen. Nordamerikanische Indianer, zum Beispiel die sogenannten Flatheads (Flachköpfe) in Idaho, die Inka und Andenvölker, die Mangbetu in Zaire und schließlich die Vorgeschichte liefern zahlreiche Beispiele hiefür.

Rituelle Verstümmelungen der Finger bei Gefahr, bei Krankheit und Tod wurden in Schwarzafrika, Nordamerika, Indien und Indonesien, Australien, Südsee geübt. Ohr-, Nasen- und Lippenschmuck waren nicht nur bei den sogenannten Naturvölkern üblich, sondern haben sich bis in die Gegenwart herein erhalten. Berühmt waren die riesigen Lippenpflöcke und Lippenteller der Sara im Mittellauf des Schariflusses in Afrika und der Kondefrauen in Tanganyika gewesen.

In früher Jugend begann das Durchbohren und Ausweiten der Oberlippen, bei den Sara auch der Unterlippen. Immer stärker werdende Pflöcke wurden eingeführt, bis die Lippen Scheiben- oder Tellerform annahmen. Kettengehän-

ge, Ringe und Reifen zerren oder zerrten an den Ohrläppchen, unter dem Zug der darangehängten Last wurden sie zu langen Lappen. Knöpfe in den Nasenflügeln und lange Stifte in der durchbohrten Nasenscheidewand erhöhen offenbar die Freude am Leben und machen Träger oder Trägerin begehrenswerter.

Eine besondere Art der Körper-deformierung stellten einst die künstlich verkrüppelten Füße der Chinesinnen dar. Diese sogenannten „Crüppelfüße" wurden von chinesischen Dichtern als „Goldene Lilien" besungen. Die Frauen der vornehmen Gesellschaft unterzogen sich um der Schönheit willen dieser Marter. Schon im vierten oder fünften Lebensjahr des Mädchens wurde damit begonnen. Die Zehen, mit Ausnahme der großen Zehe, wurden nach unten gebogen und fest bandagiert. Nach einigen Wochen gaben die weichen Knochengelenke nach und gewöhnten sich an die unnatürliche Lage. Die Füße behielten die Größe von Kinderfüßen, die Zehen wuchsen in die Fußsohlen, die Ferse wurde nach vorne gezwängt, sodaß der Abstand zwischen dem fleischlosen

Fersenknochen und der Spitze der großen Zehe kaum zwölf Zentimeter betrug.

Die getötete Haut wies viele Falten und Runzeln auf, die Beinmuskulatur erschlaffte und verkümmerte, das Bein nahm schließlich vom Schenkelgelenk bis zum Fuße eine spitze Kegelform an. In winzigen bunten Seidenschuhen gingen die Frauen wie auf Stelzen. Diese Art der Körperverstümmelung fehlte bei den Frauen der niederen Stände. Heute gehört sie längst der Vergangenheit an.

Das Prinzip der geschilderten Körperdeformationen scheint wohl schon in älteste Zeiten zurückzureichen und hatte bei den meisten Völkern Geltung. Es entsprach einem allgemein menschlichen Empfinden.

Der Autor ist emeritierter Professor für Ethnologie der Universität Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung